Auf der Flucht:Allein gelassen

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92 Geflüchtete leben in der Gemeinschaftsunterkunft in der Peter-Freisl-Straße in Bad Tölz. Viele von ihnen sind verzweifelt und mutlos. Die Betreuer sind oft überlastet. Nun reagiert das Kolping-Bildungswerk auf die unbefriedigende Situation.

Von Katharina Schmid

Die Unterkunft für geflüchtete Menschen ist in strahlenden Orange- und Rot-Tönen gehalten. Der Alltag der Bewohner dagegen ist zumeist grau und trostlos. (Foto: Harry Wolfsbauer)

We are hopeless, we have no future." Wir sind hoffnungslos, wir haben keine Zukunft. Was Idrissa Kallon da sagt, ist selten aus dem Mund eines 20-Jährigen zu vernehmen. Der junge Mann aus Sierra Leone ist einer von 92 Geflüchteten, die derzeit in der Gemeinschaftsunterkunft in der Peter-Freisl-Straße in Bad Tölz untergebracht sind.

Das Gebäude, in strahlenden Orange- und Rot-Tönen gehalten, suggeriert Lebensfreude; der Alltag der Bewohner in dem farbenfrohen Haus aber ist grau, geprägt vom Nichtstun, vom Abwarten, von Unsicherheit. Für manche ist das Alltagsgrau zu Schwarz geworden. Sie sehen keinen Weg mehr für ihr Leben und ziehen daraus im schlimmsten Fall die Konsequenzen, wie das erst kürzlich wieder der Fall war. Was Kallon und sein Mitbewohner Alan Doumbia, ebenfalls aus Sierra Leone, aus der Unterkunft erzählen, klingt wörtlich so: "Fast alle sind kaputt, sie haben so viel Stress gehabt." "Viele sind in der Klinik in Agatharied."

"Wir haben nix zu machen, außer schlafen und essen. Warum dürfen wir nicht arbeiten?" Dann beschreibt Doumbia, wie er nicht schlafen kann, weil sein Zimmernachbar von Albträumen geplagt wird. Kallon erzählt, wie er eines nachts wach wird, einen Schatten zum Fenster gehen sieht, er seinen Mitbewohner gerade noch zurück halten kann. Die Koordinatorin der Berufsintegrationsklassen (BIK) an der beruflichen Oberschule, Susanne Kruse, berichtet, dass einer ihrer Schüler immer mit all seinen Tabletten in der Hosentasche herumlaufe. "Für den Fall, dass er abgeholt wird, sagt er."

In der Unterkunft in der Peter-Freisl-Straße sind vor allem Menschen aus Sierra Leone und Nigeria untergebracht, deren Bleibeperspektive gering ist. In den vergangenen Wochen häufen sich Vorfälle, die den Verantwortlichen Sorgen bereiten. Die Bewohner fühlen sich allein gelassen mit ihren Nöten und Ängsten. Neben dem Einrichtungsleiter, einem Hausmeister und den Sicherheitsleuten kommt an drei Tagen pro Woche eine Asylsozialberaterin in die Unterkunft. Khaleda Ameri, selbst vor fünf Jahren aus Afghanistan geflohen, hat die Stelle seit drei Monaten inne: 19,5 Stunden für knapp 100 Geflüchtete. "Ich denke, dass die Leute mehr Beratung bräuchten", sagt Ameri. Vor allem der Alltag in Deutschland müsse ihnen gründlich erklärt werden, meint sie. Doch erst im Sommer ist die Stelle von einer ganzen auf eine halbe gekürzt worden.

Die Unterkunft für geflüchtete Menschen ist in strahlenden Orange- und Rot-Tönen gehalten. Der Alltag der Bewohner dagegen ist zumeist grau und trostlos. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Asylsozialberatung in der Unterkunft wird vom Verein "Hilfe von Mensch zu Mensch" getragen. Infolge der Zusammenlegung der früheren Asylsozialberatung mit der Migrationsberatung Anfang 2018 sei das Beratungskonzept in allen Landkreisen umgestellt worden, heißt es dort, "wobei die Betreuung der Geflüchteten und Migranten/-innen nun vorrangig in zentralen Büros stattfindet. Einen Beratungsschlüssel wie vormals in der Asylsozialberatung gibt es nicht mehr." Demnach würden die 92 Bewohner der Unterkunft in der Peter-Freisl-Straße nicht nur durch die Beratung am Ort, sondern auch durch die weiteren Büros in Bad Tölz betreut.

Trotz der Reduzierung einiger Stellen seien die Beratungsdienstleistungen im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen "weitgehend aufrechterhalten" worden. Ein Sprecher des Vereins betont, "dass unser Beratungsdienst weder einen Erziehungsauftrag hat, noch einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung schwerwiegender psychischer Störungen oder Traumata leisten kann". Ein größerer Bedarf für die psychologische Betreuung "insbesondere von traumatisierten Geflüchteten" sei jedoch durchaus erkennbar. Gerade im ländlichen Raum gebe es "ein ungenügendes Angebot an psychologischer Betreuung". Aus dem zuständigen Bayerischen Staatsministerium des Innern und für Integration heißt es, es sei Aufgabe der Träger, die Stellen - 10,69 im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen - "bedarfsgerecht vor Ort einzusetzen". Grundsätzlich gelte der Bestandsschutz bei der Flüchtlings- und Integrationsberatung.

Viele Bewohner in der Peter-Freisl-Straße wenden sich mit ihren Fragen und Sorgen derzeit vor allem an den Unterkunftsleiter Markus Baude. Der wiederum fühle sich "total alleine gelassen", sei nahe am Burnout, sagt Christine Niggl, Bereichsleiterin des Kolpingwerks, das die sozialpädagogische Betreuung der Schüler der BIKs übernommen hat. Selbst darf sich Baude nicht zur Situation in der Flüchtlingsunterkunft äußern. Durch seinen Arbeitsvertrag mit dem Betreiber European Homecare hat er sich zum Schweigen verpflichtet. Nur so viel: "Mein Job hier ist eigentlich die Verwaltung." Dennoch würden bei ihm jede Woche Menschen im Büro sitzen, die nicht mehr wissen, wie es weiter gehen wird. Das erzählen Bewohner und Menschen, die Einblick haben in den Alltag in der Unterkunft.

"Es ist sehr belastend, wenn man im Unterricht 15 Schüler vor sich hat, die Angst haben, dass sie abgeschoben werden", sagt Susanne Kruse, verantwortlich für die Berufsintegrationsklassen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Viele Bewohner dort sind stark traumatisiert, nehmen Psychopharmaka, um ihr Leben zu bewältigen. Psychologische Betreuung wäre für viele von ihnen notwendig, und Doumbia, einer der Bewohner, fragt sich, wieso dafür kein Geld da sei, "für so viele Sicherheitsleute" aber schon. Während in anderen Unterkünften Ehrenamtliche die Geflüchteten mit ihren Problemen so weit möglich auffangen, ist in Tölz Leere. In der Peter-Freisl-Straße fehlt ein Helferkreis.

Dabei sei es gerade der Kontakt zu Menschen außerhalb der Unterkunft, der den Bewohnern gut tue, sagt Ingrid Kreuwel von ReAL Isarwinkel, ehemals für die sozialpädagogische Betreuung der Schüler zuständig. Haben sie den nicht, bleiben sie mit ihren aufwühlenden Erlebnissen allein. Stehen dann, wie vor einigen Tagen, eines Morgens plötzlich sechs Polizisten und ein Schäferhund vor der Tür, um einen aus ihrer Mitte abzuholen, bricht Panik aus. Wer wird der nächste sein? "Wir wissen nicht, wie es weitergeht", sagt Doumbia.

Diese Unsicherheit plagt die jungen Männer. Das stellt auch Susanne Kruse immer wieder fest. "Es ist sehr belastend, wenn man im Unterricht 15 Schüler vor sich hat, die Angst haben, dass sie abgeschoben werden", sagt sie. An normales Unterrichten sei an manchen Tagen nicht zu denken, vor allem, wenn Vorfälle wie in den vergangenen Wochen sich häufen und die Schüler ganz direkt mit den Absichten ihrer Mitbewohner konfrontiert werden, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Dabei haben die Geflüchteten, die zur Schule gehen, noch Glück. Denn für den Großteil der Bewohner aus der Peter-Freisl-Straße greift die Schulpflicht nicht mehr, sie sind zu alt, um in die Berufsschule zu gehen und bleiben mit ihren Problemen oftmals allein. "Wir sitzen den ganze Tag nur da", sagt Doumbia. "Es würde einige Probleme lösen, wenn wir arbeiten dürften." Keine Aufgabe zu haben aber bedeute, viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Für viele der traumatisierten jungen Männer genau das Falsche. Kreuwel beobachtet, dass sich die meisten Geflüchteten zuallererst nach Kontakt und Beschäftigung sehnen. "Sie langweilen sich, haben ihre Ängste und schlechte Erinnerungen und dann beginnt das Kopfkino", sagt Kreuwel.

Weil Mutlosigkeit und Angst der BIK-Schüler gerade in den vergangenen Wochen gewachsen sind, haben die Verantwortlichen bei Kolping spontan Musikinstrumente für die Schüler organisiert. Regelmäßig wird nun zusammen gesungen und gebetet. "Das ist im Moment das Einzige, was hilft", sagt Niggl. In einer außerordentlichen Sitzung zur Situation in Bad Tölz hat das Kolping-Bildungswerk München-Oberbayern nun beschlossen, den Tölzer Mitarbeitern "eine kurzfristige Unterstützungshilfe aus verbandseigenen Mitteln" zur Verfügung zu stellen, so Verena Seischab von Kolping.

Zusätzliche Stunden für die Betreuung der Geflüchteten sollen auf diese Weise geschaffen werden. Daneben versuche das Bildungswerk über einen Förderverein einen Traumatherapeuten für die Bewohner zu organisieren, der "im akuten Traumafall" zur Stelle sein soll. "Wir sehen, dass jetzt gehandelt werden muss", sagt Seischab. Die Initiative von Kolping sei jedoch nur als "Notfallüberbrückung" zu sehen. "Bis die Politik entsprechende Maßnahmen ergreift."

© SZ vom 31.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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