Ateliertage Berg-Icking:Unvergesslich

Lesezeit: 4 min

„Trost“ heißt die Installation aus Leisten und Vogelfedern, die Birgit Berends-Wöhrl in der Wolfratshauser Humplgasse zeigt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Birgit Berends-Wöhrl holt Gegenstände und Schicksale ans Licht. Am Wochenende öffnet sie ihre Räume an der Wolfratshauser Humplgasse.

Von Stephanie Schwaderer, Wolfratshausen

Wer mag all diese Schuhe getragen haben? Wer waren diese Kinder, Frauen und Männer? Wohin sind sie gelaufen - zum Tanz? Ins KZ? Birgit Berends-Wöhrl hat Schuster-Leisten zu einem Kegel aufgeschichtet, zentnerschwer und zugleich fragil. Die Leisten - es sind Duplikate aus Beton - liegen lose aufeinandergeschichtet. In der Anhäufung verlieren sie das Individuelle, ihr Wesensmerkmal, und führen vor Augen, was nicht mehr da ist: all die kleinen und großen, schmalen und kräftigen Füße, für die sie einst gefertigt wurden. Ein bedrückendes Arrangement.

Genau spiegelverkehrt über dem Kegel aus Stein schwebt ein Gegenstück aus Luft und Spielerei. Weiße Marabu-Federn bauschen sich beim sanftesten Luftzug, tanzen an unsichtbaren Fäden. Mit etwas Abstand betrachtet gleicht die Installation einem riesigen Stundenglas. "Trost" hat Birgit Berends-Wöhrl sie genannt.

"Wie in einem Mausoleum"

Derzeit steht "Trost" in einem kleinen Atelier in der Wolfratshauser Humplgasse. Berends-Wöhrl hat dafür Platz geschaffen, hat Bronzen und Holzarbeiten, mit denen sie über Jahre Seite an Seite gearbeitet hat, hinter einen Vorhang verbannt. "Ich kam mir hier vor wie in einem Mausoleum", sagt sie. Nun ist wieder Raum für Neues - und für "Vergessenes".

So lautet heuer das Motto der Ateliertage Berg-Icking. 21 Künstlerinnen und Künstler zwischen Ammerland und Hohenschäftlarn öffnen wieder ihre Werkstätten und freuen sich über interessierte Gäste. Neben alten und aktuellen Arbeiten zeigt jeder von ihnen ein Werk, das von Vergessenem handelt.

"Das Thema hat mich sofort angesprochen", sagt Berends-Wöhrl, und ihre blauen Augen leuchten wie zur Bestätigung hell auf. Dennoch sei sie lange unschlüssig gewesen, wie sie es aufgreifen wolle. Der Impuls kam unvermutet vor wenigen Wochen auf einem Flohmarkt in Mecklenburg-Vorpommern. Dort fiel ihr ein Buch in die Hände; auf dem Umschlag das Schwarz-Weiß-Foto einer alten Frau und ein Name: Marcjanna Fornalska.

Die Polin lebte von 1870 bis 1963, war Zeugin zweier Weltkriege, hatte sechs Kinder und nie genug zu essen, kämpfte mit aller Kraft dafür, dass ihre Kinder eine Schulbildung erhielten. Sie selbst war Analphabetin - und schrieb als alte Frau Buchstabe für Buchstabe ihre Biografie. Berends-Wöhrl begann in den "Erinnerungen einer Mutter" zu blättern, bezahlte den Preis (1,50 Euro) und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Nach ein paar Tagen war ihr klar: "Da fügt sich etwas. Dieses Buch hat mich gefunden."

Seither weiß sie, was ihre Aufgabe bei den Ateliertagen sein wird. "Einen schlichten Raum schaffen, hier auf diesem Sessel sitzen und aus diesem Buch vorlesen." Die letzten Exemplare würden gerade im Internet verramscht. "Ich will dieser Frau meine Stimme geben." Eine Freundin wird neben ihr am Spinnrad sitzen - eine Szene, wie sie Fornalskas Biografie entsprungen sein könnte. Die Dritte in der Runde ist die Installation "Trost". Einige Jahre war sie eingemottet gewesen. "Jetzt hatte ich richtig Lust, sie noch einmal aufzubauen."

Dieser Prozess sei typisch für ihre Arbeitsweise, erklärt die Künstlerin. Ins Atelier ziehe es sie dann, wenn ihr "im wirklichen Leben" etwas begegne, das sie bewege, aufwühle und ihr über Tage keine Ruhe mehr lasse. "Dann wächst in mir das Bedürfnis, das künstlerisch zu bearbeiten." Sie sei keine Esoterikerin, arbeite gern mit schweren Materialien - "und doch spüre ich auf der feinstofflichen Ebene, dass da noch andere Dinge mitschwingen". Als Bildhauerin stehe sie mit einem Bein im Diesseits und mit dem anderen im Jenseits. Aus dieser "Zwischenwelt" schöpfe sie die Inspiration und Energie.

Schwer zu verkaufen

Verkaufen wird sie bei den Ateliertagen vermutlich nichts. "Das funktioniert bei meinen Arbeiten nicht." Über viele Jahre habe sie darunter gelitten, weil sie Erfolg "wie alle anderen" über Geld definiert habe. "Aber wenn wir Künstler es nicht schaffen, uns von diesem Denken frei zu machen, wer dann?"

Dass ihre Freiheit nicht zuletzt darauf gründet, mit einem Mann verheiratet zu sein, "der gut verdient", verschweigt sie nicht. Im Gegenteil: Sie sagt es mehrmals, ganz entspannt emanzipiert. Überhaupt ist die 54-Jährige auf unaufgeregte Weise unangepasst. An der Akademie sei sie als junge Frau abgelehnt worden, weil sie zwei kleine Kinder hatte, erzählt sie. Der Professor traute ihr - trotz allen Talents - kein Kunststudium zu. "Also habe ich es auf meine Weise gemacht." Sie suchte sich Lehrmeister, belegte Kurse und Fortbildungen. Seit 1996 hat sie ein eigenes Atelier. Dort sei es ihr aber irgendwann zu einsam geworden. "Man arbeitet ein Jahr lang auf eine Einzelausstellung hin, und nach zwei Wochenenden ist alles vorbei."

Mit 42 beschloss sie deshalb, noch einmal etwas ganz anderes anzufangen. Sie studierte Sozialpädagogik in Benediktbeuern. Derzeit arbeitet sie drei Tage die Woche in einem integrativen Hort.

In der Humplgasse liegt ihr "Zufluchtsort". Auch wenn das Atelier nun vergleichsweise leer geräumt ist, gibt es dort einiges zu entdecken. Rätselhafte Stickereien an der Wand zum Beispiel, die Berends-Wöhrl auf Gut Biberkor vor dem Vergessenwerden bewahrt hat. Es handelt sich um Kartoffelsäcke, die einst von Klosterschwestern mit feinstem Faden und ohne erkennbares System geflickt wurden. Darunter steht ein altes Kinderbett mit einem kleinen Kissen und einer winzigen Decke darin - beides kalt und hart, aus leichenblassem Wachs. Verstörend.

Ein paar Schritte gegenüber sitzt ein aus Holz gearbeitetes Mädchen im roten Kleid auf dem Boden, weltvergessen ins Spiel vertieft. Dass es noch da sein darf, ist seinem Gewicht geschuldet - die Schöpferin hat es alleine nicht wegtragen und hinter den Vorhang hieven können. Mittlerweile denkt Berends-Wöhrl, dass die Kleine da ganz gut sitzt. Weil sie eine warme und heitere Note in den Raum bringt. Manche Dinge fügen sich, indem sie sich sperren.

© SZ vom 21.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Von Ammerland bis Wolfratshausen
:Offene Ateliers

Die Ateliertage Berg/Icking - heuer unter dem Titel "Vergessenes" - wirken als Brücke. Seit 1987 tragen sie dazu bei, den lebendigen Austausch zwischen Betrachter, Kunst und Künstler zu fördern. An den kommenden beiden Wochenenden (22./23. September ...

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: