Architekturgeschichte:Heilige Imitationen

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Nach der Reformation bildete sich eine Gegenbewegung zum schmucklosen Protestantismus. Die kirchliche Architektur lehnte sich wieder an historische Vorbilder an - auch in der Region kann man das gut nachzeichnen

Von Kaija Voss

Zurzeit ist unser privater Radius arg eingeschränkt: keine Reisen ins Ausland, keine Tagesausflüge - und auch keine (Pilger-)Fahrten nach Rom in der Fastenzeit vor Ostern. Die Corona-Krise verhindert all das. Diese Einschränkung der Mobilität verbindet uns allerdings mit unseren Vorfahren, die in der Regel weder Mittel noch Möglichkeiten hatten, um zur Scala Santa nach Rom oder zur Grabeskirche nach Jerusalem zu reisen. Momentan können wir uns die große Welt nur auf dem Bildschirm ins Wohnzimmer holen. In der Zeit des Barock - also nach dem Dreißigjährigen Krieg - hat man das ähnlich gemacht. Da baute man sich die Nachbildungen historischer Orte direkt vor die Haustür.

Auch im Oberland entstanden Kalvarienberge, Heilige Stiegen und Heilige Gräber - die bildreiche und emotionale Antwort der Gegenreformation auf den kargen, schmucklosen Protestantismus. Der Begriff Kalvarienberg meint dabei den Berg Golgatha, die Kreuzigungsstätte von Jesus von Nazareth. Der Name leitet sich aus der lateinischen Übersetzung des Bergnamens Golgatha als "Calvariae locus" ab, lateinisch für "des Schädels Ort". Graf Ferdinand Josef von Herwarth zu Hohenburg war es, der im 17. Jahrhundert in Lenggries Kalvarienberg und Heilige Stiege errichten ließ, der Tölzer Salz- und Zollbeamte Friedrich Nockher war Initiator des Tölzer Kalvarienbergs im 18. Jahrhundert. Letzterer entstand tatsächlich auf einer Hinrichtungsstätte.

Neben den Kreuzwegstationen der Kalvarienberge gehören zur bildhaften Darstellung der Passion Christi oft Nachbildungen der "Scala Santa" aus der Lateranbasilika in Rom. Dort führte die Treppe empor zur Kapelle Sancta Sanctorum. Der Überlieferung nach wurde die Heilige Stiege von der Mutter des Kaisers Konstantin, der Heiligen Helena, im 4. Jahrhundert von Jerusalem nach Rom gebracht. Ursprünglich soll sie aus dem Palast von Pontius Pilatus stammen und von Jesus selbst betreten worden sein. Hier begann sein Leidensweg in Jerusalem.

In Erinnerung an die Leiden Christi müssen auch alle anderen Heiligen Stiegen auf Knien betend erklommen werden. Am Anfang der Tölzer Scala Santa in der Heilig-Kreuz-Kirche findet sich folgende Anleitung: "Bemerkung für Fremde. Da diese mittlere Stiege nach dem Muster der wahren heiligen Stiege zu Rom, hier errichtet und durch Einlegung mehrerer heiliger Reliquien eingeweiht worden ist, so soll von den Christgläubigen auf derselben nur kniend hinaufgebetet werden. Zum auf- und abgehen sind die Seitentreppen bestimmt."

Auch auf dem Kalvarienberg von Lenggries gibt es die Scala Santa - und wie ihr römisches Vorbild hat sie 28 Stufen. Anders als in Rom wird sie nicht von Fresken, sondern von Engeln mit Marterwerkzeugen - Zangen, Stricken oder Ketten - gesäumt. Es war wohl wieder die Heilige Helena, die im 4. Jahrhundert im ganzen Heiligen Land nach Gegenständen suchen ließ, die mit dem Leiden und Sterben Christi in Zusammenhang standen. In Lenggries und auch an der Heiligen Stiege in Tölz finden sich pausbäckige Engelchen, die, galant und unschuldig blickend, Folterwerkzeuge in den Händen halten, umgeben von prächtigen Engelsflügeln und Himmelstrahlen aus Blattgold.

Die Nachbauten der Heiligen Stiegen tragen in der Regel Spuren vom Blute Christi - wie beim Original in Rom. Dort sind die Marmorstufen allerdings seit 1723 mit einer Holzverkleidung vor Abnutzung geschützt. Dafür gibt es Sichtfenster auf die Blutspuren, an der zweiten, elften und 28. Stufe.

In San Giovanni in Laterano wird jedem Pilger, der die Stufen auf den Knien erklimmt und auf jeder Stufe ein Vaterunser betet, einmal pro Jahr oder zu bestimmten Feiertagen ein Generalablass gewährt. In Lenggries gibt es ein Schild, das an jedem letzten Sonntag des Monats vollkommenen Ablass verspricht. Dass der Ort nicht allein Absolution gewährt, sondern angeblich auch Wunder bewirkt, zeigen die zahlreichen Votivtafeln. Hat man sich in Lenggries kniend emporgearbeitet, erblickt man am Hauptaltar Christus an der Geißelsäule, gefesselt und trotzdem strahlend, nicht von dieser Welt und doch alle Blicke auf sich ziehend.

Die 14. Station des Kreuzwegs ist das Heilige Grab. In Lenggries gibt es sowohl dessen Nachbildung als auch eine sehr bildhafte "Arme Seelen Gruft" mit Fegefeuer. Die Grabesdarstellungen auf dem Tölzer Kalvarienberg findet man am Altar der Leonhardikapelle und unterhalb des Hauptaltars der Heilig-Kreuz-Kirche - zur Weihnachtszeit steht hier die Krippe.

Als Heiliges Grab werden sowohl bauliche Nachahmungen der Grabeskirche in Jerusalem benannt als auch Anlagen mit figürlichen Szenerien, die ähnlich einer Weihnachtskrippe nur temporär entstehen, in diesem Fall an Ostern. Der Historiker Karl Alexander von Müller, Sohn eines bayerischen Kultusministers unter Ludwig II., schrieb in seinen Erinnerungen über München: "Wir genossen mit Freude alle sinnlich lebendigen Sitten unsres Glaubens: Wir besuchten an Weihnachten alle Krippen und an Ostern alle heiligen Gräber der Stadt."

Prachtvoll mit Blüten geschmückte Heilige Gräber entstehen normalerweise jedes Jahr an Ostern in der Dreifaltigkeitskapelle im Wolfratshauser Bergwald, im Kloster Schäftlarn, in der Kirche Sankt Laurentius in Königsdorf oder in Sankt Michael in Gaißach. Die festlichen Anlagen gehören zu den Kostbarkeiten bayerischen Brauchtums. In diesem Jahr dürfen die Heiligen Gräber in der gesamten Erzdiözese München-Freising nicht aufgebaut werden - zum Schutz vor Ansteckung mit dem Coronavirus. Am Karfreitag waren keine öffentlichen Gottesdienste möglich - Gleiches gilt nun auch für die Osterfeiertage. Geistliche Impulse und Predigten werden den Gläubigen auf dem Bildschirm übermittelt, unter anderem auch per Youtube-Video.

© SZ vom 11.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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