Kulturehrenbrief:Odysseus vom Starnberger See

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Iring ten Noever de Brauw in seinem Wohnzimmer. (Foto: Hartmut Pöstges)

Der 85-jährige Maler und Bildhauer Iring de Brauw aus Ambach wird für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Dabei ist er lange noch nicht am Ziel.

Von Stephanie Schwaderer, Münsing

Wer den Fuß über die Schwelle dieses Hauses hoch über dem Starnberger See setzt, dem weht der Wind mit einem Mal von allen Seiten um die Ohren. Wohin zuerst schauen? Ein stattliches blaues Schiff kommt das Treppenhaus heruntergesegelt, ein anderes mit mächtigen Segeln zieht seine Bahn quer über eine voll bepackte Kommode, nimmt Kurs auf einen kindsgroßen Kopffüßler, der die Küchentür bewacht. Drei Schritte weiter öffnet sich hinter einem hinduistischen Tempeltor eine Welt, in der offenbar jegliche Grenzen - geografische wie religiöse, kunstgeschichtliche wie konventionelle - aufgehoben sind. Es ist die Welt des Künstlers Iring ten Noever de Brauw.

Links in der Ecke beugt sich ein Christus von einem rot-blau bemalten Kreuz. Er ist nicht festgenagelt, scheint sich vielmehr zu strecken und blickt freundlich zu einem Buddha hinab. Rechts daneben spannt ein gewaltiger Engel mit afrikanischen Zügen seine Flügel auf. An den Wänden und Fenstern, in Regalen und auf dem Boden wetteifern Gemälde, Fundstücke, Ketten und Skulpturen um Aufmerksamkeit, darunter immer wieder Schiffe, Schiffe, Schiffe. Keine Frage: Hier ist einer auf großer Fahrt.

Schiffe und Kunst aus allen Kontinenten hat Iring de Brauw um sich gesammelt. (Foto: Hartmut Pöstges)
Auch Luftschiffe sind in seinem Haus unterwegs. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Ich lebe für die Kunst", sagt Iring de Brauw. Und das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Mann mit Melone lebt offenkundig für, von und inmitten seiner Kunst. Auch mit 85 Jahren arbeite er noch jeden Tag viele Stunden an seinen Bildern, sagt seine Frau Britta Barth. "Ich bekomme ihn hier nicht raus." Er lächelt vergnügt. Dass er nun mit dem Kulturehrenbrief des Landkreises für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, freut ihn. "Eine tolle Überraschung", sagt er. Auch deshalb, weil es ihm die Möglichkeit gibt, im Landratsamt eine große Ausstellung zu machen.

Mehr als 80 Bilder hat er dafür ausgewählt und intuitiv gehängt. Sie stammen aus den sechs vergangenen Jahrzehnten und offenbaren die eine große Konstante in seinem Werk: Dass man nie weiß, was als Nächstes kommt. "Ich bin neugierig", sagt er. "Immer das Gleiche zu machen, würde mich langweilen." Ob im- oder expressionistisch, abstrakt, kubistisch oder symbolistisch - Iring de Brauw hat wenig ausgelassen. Ein Städtebild von Esslingen darf bei ihm selbstverständlich neben einem Neptunstab und einem Bauer mit Stier hängen, der stark an Picasso erinnert. "Ich liebe Picasso", sagt er. Natürlich habe er sich auch von ihm inspirieren lassen. "Man lässt sich ja von allem anregen."

So auch von Schiffen. Die zogen damals an seinem Fenster vorbei, als er als kleiner Bub in Den Haag aufwuchs. Nur sein erstes Lebensjahr hat er in der Ambacher Villa verbracht, in der er nun mit seiner Frau und der Familie seiner Tochter wohnt. 1939 waren seine Eltern mit ihm von dort in die Niederlande geflohen, in die Heimat seines Vaters. "Wir haben nichts zu essen gehabt", erinnert er sich. Aber am meisten habe er seinen Nachbarn darum beneidet, dass dieser Schiffe baute. "Als junger Mensch wollte ich Schiffsbauer werden oder Kirchenbauarchitekt." Irgendwann habe er dann begonnen, Schiffe zu malen - und nicht mehr damit aufgehört.

In der Serie "Schiffe und Kathedralen" hat er mit filigranem Pinselstrich beide Kindheitsträume vereinigt. Schiffe und Kirchen wachsen immer wieder neu und aufs Fantastischste zusammen. Seine jüngsten Bilder zeigen durchsichtige Schiffe, die zwischen Himmel und Meer fliegen. "Fotomalerei" nennt er diese auf Aluplatten gedruckten Arbeiten.

Dem Thema "Schiffe und Kathedralen" hat Iring de Brauw eine ganze Serie gewidmet. (Foto: Manfred Neubauer)
Dieses leuchtende Exemplar segelt an der Wohnzimmerwand. (Foto: Hartmut Pöstges)
Seit Neuestem lässt der Künstler gemalte Schiffe übers Meer fliegen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Zur Kunst fand Iring de Brauw mit 17 Jahren durch ein Kandinsky-Buch. Seine Ausbildung erhielt er bei dem Esslinger Glasmaler Hans Gottfried von Stockhausen und später an den Kunstakademien in Stuttgart und München. "Dort habe ich nicht viel gelernt", sagt er. Ein Professor habe ihn "fertig gemacht", weil er nach Art des Jugendstils gemalt habe. "Ich habe trotzdem wie ein Wahnsinniger weitergemalt. Nicht in der Akademie, sondern auf meinem Zimmerchen." Auch später, wenn Galeristen oder Kritiker ihm vorhielten, zu viele verschiedene Dinge gleichzeitig zu machen, habe er sich nicht vom Kurs abbringen lassen. "Ich hatte immer viel Gegenwind, aber ich hatte ein Ziel."

Zwei Fragen sind es, die ihn seit jeher beschäftigen: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Als Künstler suche er nach der spirituellen Welt, sagt er, mache sichtbar, was andere nicht sehen. "Ich verstehe oft selbst nicht, wo es herkommt." Er sei kein Esoteriker, sondern "ein Suchender, der wissen möchte, was mir von wo eingegeben wird". Im Wohnzimmer verweist er auf ein "Schlüsselbild". Er hat es 1984 gemalt und "Odysseus und Penelope" genannt. Im Zentrum schaukelt - wie könnte es anders sein - ein Boot auf hoher See. Von ihm aus führt eine Leiter in den Himmel, der sich einen Spalt weit geöffnet hat und gleißendes Licht erahnen lässt. "Odysseus sucht zehn Jahre nach seiner Heimat", sagt er. "Ich suche nach meiner geistigen Heimat."

Das "Schlüsselbild" aus dem Jahr 1984. (Foto: Hartmut Pöstges)
"Ich bin ein Suchender", sagt Iring de Brauw. (Foto: Hartmut Pöstges)

Aktuell arbeitet der Künstler an drei ganz unterschiedlichen Projekten: der besagten Fotomalerei, einer Gemälde-Reihe, in deren Mittelpunkt als Element das Ei steht, und an einer Serie, die seinem Alter zu verdanken ist: Weil er seine großen schweren Holzskulpturen nicht mehr aufstellen kann, hat er sie fotografiert und abgemalt, das Papier an manchen Stellen eingeschnitten und einzelne Elemente aufgeklappt. In tiefen Objektrahmen wirken diese Figuren wie rätselhafte Jagdtrophäen aus einer anderen Welt.

Ein bisschen wacklig sei er auf den Füßen, "aber beweglich bin ich noch", sagt Iring de Brauw. "Und die Neugier treibt mich an." Dass er an einem solch schönen Platz mit seiner Familie leben und arbeiten dürfe, verpflichte ihn dazu, "alles zu geben, was ich kann". Er genieße es, aus seinem Können und seiner Erfahrung zu schöpfen. "Wenn ich etwas Neues beginne, habe ich das Vertrauen, dass es gut wird. Und wenn es dann klappt, sage ich: Dankeschön!" Er dreht die Handflächen nach oben, hebt die Schultern, lächelt. "An wen auch immer."

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