Am Rande der Corona-Krise:"Das ist schildbürgerlich"

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Über den Grenzübergang Kaiserwacht rasten die Flüchtenden nach Österreich. Warnschüsse und eine Straßensperre stoppten sie am Achensee. (Foto: Manfred Neubauer)

Die Bewohner von Hinterriß wie Manfred Reindl vom Gasthof zur Post stehen vor einem besonderen Grenzproblem. Sie kommen aus Deutschland heraus, aber auf der anderen Seite nicht wieder hinein

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Ausgehen ist so gut wie unmöglich, wegfahren ebenso, und die Grenzen sind eh dicht. Das gilt auch für einen eher kleinen, aber sonst gerne als touristischer Schleichpfad genutzten Übergang im Süden des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen nach Tirol. Der Grenzübergang Achenpass, auch Kaiserwacht oder "Wachtl" genannt, wird seit vergangenem Montag, dem Tag der ersten Allgemeinverfügung, von Beamten der Bundespolizei genauso streng kontrolliert wie die größeren Übergängen, zum Beispiel auf der Autobahn bei Kufstein-Kiefersfelden. Das allerdings bedeutete einen Personalaufwand, der nicht lange durchzuhalten war. Und so ist seit Donnerstag die Bundesstraße 307 auf Höhe der Kaiserwacht statt mit Polizeiaufgebot mit einer Lawinenschranke versperrt. Die Zufahrt Richtung Österreich und auch ins Tegernseer Tal aus Richtung Lenggries, Fall oder Sylvensteinspeicher ist somit geschlossen.

Für Pendler und Landkreisbürger, die am "Wachtl" kaum mehr eine Grenze nach Tirol wahrgenommen haben, eine so ungewohnte wie harte Erfahrung. Doch für eine kleine Gruppe von Landkreis-Nachbarn eine schiere Katastrophe: für all jene, die in Hinterriß leben. Der Grenzverlauf nämlich macht noch einen besonderen Schlenker am Rande von Bad Tölz-Wolfratshausen. Wer am Sylvensteinspeicher nicht links abbiegt zur Kaiserwacht, sondern rechts in Richtung Fall und dann weiterfährt, passiert eine andere Grenze zu Österreich, und zwar in Vorderriß.

Während am "Wachtl" das alte Grenzhäuschen mit seinem geschwungenen Dach aus den Fünfzigerjahren noch immer an einen Übergang erinnerte, erkennen in Vorderriß nur noch Eingeweihte das ehemalige Grenzhaus. Es folgen ein paar Almen, die kleine Ortschaft Hinterriß und schließlich die Eng mit ihrem berühmten Ahornboden und dem Talschluss. Dort endet der Weg, zumindest für all jene, die nicht bergsteigen. Die Bewohner der Enklave sind der österreichischen Gemeinde Vomp zugeordnet. Sie müssen für alle offiziellen Angelegenheiten jedes Mal über deutsches Gebiet reisen - einmal aus Österreich hinaus in Vorderriß, entlang am Sylvensteinspeicher und dann am "Wachtl" wieder hinein. Das schafft gerade in der Corona-Krise eine noch nie dagewesene Situation. Zwar wird, wie die Bundespolizei bestätigt, der ehemalige Grenzübergang Vorderriß nicht kontrolliert. Die Hinterrisser kommen also hinaus, aber auf der anderen Seite nicht wieder hinein in ihr Land.

"Das ist schildbürgerlich", findet Manfred Reindl. Er betreibt zusammen mit seiner Familie den Gasthof zur Post in Hinterriß, ein beliebtes Ausflugslokal im Herzen des Alpenparks Karwendel. "Wir können von Hinterriß die ganz BRD abfahren, da bei unserem Grenzübergang in der Vorderriß natürlich keiner kontrolliert, aber auf dem kürzesten Weg können wir nicht ins eigene Land fahren", beschreibt er. Es gehe dabei weniger um die Lebensmittelversorgung, "weil wir alle gewohnt sind, uns nicht täglich versorgen zu müssen, sondern um Arztbesuche", betont Reindl. In dem Tal gebe es acht Personen über 80 Jahre, die auf eine häufige Versorgung durch Mediziner und Medikamente im Achental angewiesen seien. Symptome von Covid-19 zeige allerdings noch keiner.

Als noch Beamte den Grenzübergang kontrollierten, war die Anordnung deutlich: Ein- und ausreisen durfte, wer einen sogenannten "triftigen Grund" vorweisen konnte. "Darunter fallen zum Beispiel Deutsche, die heimkehren wollen, oder Berufspendler", erklärt ein Sprecher der Bundespolizeiinspektion Rosenheim, die für die Kontrollen am Achenpass zuständig war. Das aber ist mit dem Abzug der Beamten und der neuen Schranke nicht mehr möglich.

Nach Angaben von Reindl bemühe sich die Gemeinde Vomp gerade, die Situation an der Grenze zum Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen in den Griff zu bekommen. "Es wird sicher demnächst eine Lösung dafür geben", hofft der Gastwirt. Seinen bayerischen Nachbarn allerdings rät er zu einer größeren Vorsicht. Denn während sich sonst in Tirol so gut wie alle an die Ausgangssperre hielten, "geht's bei uns in Hinterriß zu wie immer", sagt er. Viele Besucher hätten das schöne Wetter in der vergangenen Woche genutzt und seien von Bad Tölz-Wolfratshausen aus in die kleine österreichische Enklave gefahren, um dort noch Skitouren zu machen. Einzelne seien auch zum Langlaufen gekommen, zum Radfahren oder zum Spazierengehen. "Und die Motorräder und Sportwagen sind auch alle unterwegs", berichtet Reindl, "allesamt natürlich aus der bayerischen Umgebung." Seinen Gasthof samt Zimmer im Herzen von Hinterriß hat Reindl allerdings vorschriftsmäßig zugesperrt.

© SZ vom 23.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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