Der Dreh- und Angelpunkt in diesem Museum ist kein Kunstwerk, obwohl seine Sammlung durchweg mit Meisterwerken der Klassischen Moderne bestückt ist. Das geheime Zentrum des Franz-Marc-Museums in Kochel ist der Raum im Obergeschoss, der durch eine große Fensterfront den Blick freigibt auf den Kochelsee, auf die Natur, die in den Werken an den Wänden gespiegelt ist. Die spektakuläre Aussicht korrespondiert mit den spektakulären Ansichten der Gemälde. Diese harmonisch ideale Verflechtung von unmittelbar ansprechender Kunst und der äußeren Wirklichkeit, die zu vielen der ausgestellten Werke den Anstoß gegeben hat, macht das Franz-Marc-Museum zu einem der schönsten Museen Deutschlands. Und lädt damit zumal Gäste, die einen Ausflug auch mit einer Erkundung der Umgebung verbinden möchten, dazu ein, Kunst und lebendige Erfahrung auf eine selten so beglückende Art zu verbinden.

Wer sich etwa nach einem kurzen Aufstieg zum Museum in dessen erstem Stock wiederfindet, wird eventuell mit einem Déjà-vu konfrontiert. In einer der kleinformatigen Arbeiten Franz Marcs, die noch deutlich im Zeichen des Naturalismus und Postimpressionismus stehen, ist eine Winterlandschaft zu sehen, in der die Zeit selbst gefroren zu sein scheint. Die kleineren Ölgemälde sind nicht die berühmtesten Werke Franz Marcs, lassen aber die Entwicklung des Malers deutlich werden, die zu den charakteristischen Tier-Darstellungen geführt hat.
Diese können wenige Meter daneben bestaunt werden: irreal gebogene Rehe; Gazellen, die in ihrer schwungvollen Formgebung unter Spannung zu stehen scheinen; ein Gruppenbild mit ernsten Eseln; sowie, als eine Art Synthese von Marcs besten Qualitäten, das vor Fantasie und Farbintensität überbordende Glasgemälde „Landschaft mit Tieren und Regenbogen“ von 1911. Es hängt derzeit in einem Nebenraum, der auch kostbare Bleistift-Miniaturen enthält.

d

Der erste Stock des Museums ermöglicht so einen ersten Einblick in das reiche Werk des Namensgebers. Es empfiehlt sich zudem, den Besuch hier zu beginnen, weil auf diese Weise informative Texte über die Neue Künstlervereinigung München, die Künstlergruppe des Blauen Reiters und Marcs Biografie den kunsthistorisch Interessierten Kontexte der Werke erschließen. Außerdem dürften (nicht nur) Kinder ihre Freude an dem Bild haben, das nach überdimensionierten glasierten Birnen aussieht, in Wahrheit aber „Hocken im Schnee“ zeigt, also Heuballen, die Marc auf dem Land ins Auge gestochen sein dürften.
Seit 1986 präsentiert das Kochler Museum diese Hauptwerke der Klassischen Moderne in der Landschaft, die sie inspiriert hat, was vor allem auf das Engagement von Etta und Otto Stangl zurückgeht. Das für die Avantgarde-Kunst eminent wichtige Galeristen-Ehepaar bemühte sich mit dem Kunsthistoriker Klaus Lankheit um die dauerhafte Ausstellung der Werke Franz Marcs, was letztlich zur Einrichtung des Museums in der Kochler Villa führte. 2008 vergrößerte der Neubau die Museumsfläche mit günstig dimensionierten, angenehm ausleuchtbaren Räumen, in denen Marcs Œuvre im Dialog mit anderen Werken großer Kunstschaffender des zwanzigsten Jahrhunderts in einem erweiterten Bezugsrahmen gesehen werden kann.
So zieren den zweiten Stock des Museums derzeit etwa subtile Aquarelle von Paul Klee, die dessen Faszination an geometrischer Strenge widerspiegeln und ebenso dessen Meisterschaft, das Licht des Südens in einem Bild wie „Bucht M. auf Sizilien“ einzufangen. Die spektralen Farborgien strahlen auch aus den Bildern von Alexej von Jawlensky oder Lyonel Feininger.


Nach dem Treppenaufstieg (oder der Aufzugfahrt) kommt man mit abstrakteren Kompositionen als im ersten Stock in Kontakt. Gleichwohl haben auch diese Gemälde einen hohen Grad an verdichtetem Ausdruck, der mit einer einzelnen Darstellung Geschichten evozieren kann. Was machen etwa die geheimnisvollen Figuren in Erich Heckels „Parksee“? Klarer ist die Lage in Ernst Ludwig Kirchners expressionistischem Schauer-Bild „Die Selbstmörderin“. Im blutroten Hintergrund ist hier ein Paar zu sehen, während sich die Protagonistin eine Pistole auf die Brust setzt.
Erholung von den Farbexplosionen bieten im größten Raum des Stockwerks die gänzlich abstrakten Werke etwa von Serge Poliakoff und Pierre Soulages, der in seinen groß dimensionierten Arbeiten eben keine Farben, sondern Schwarz in Szene setzt. Um der Dramaturgie des gelungenen Museumsbesuchs die Krone aufzusetzen, endet die Dauerausstellung mit dem Blick aus der Fensterfront auf den See. Ein passenderer Abschluss der Runde durch die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist kaum möglich als mit diesem meditativen Blick nach draußen.
Eine erste Begegnung mit den Meisterwerken der von Museumsdirektorin Jessica Keilholz-Busch neu gehängten Dauerausstellung dürfte eine gute Stunde dauern. Kunstübersättigt ist man danach keinesfalls, sodass sich ein Blick in die aktuelle Wechselausstellung lohnt. Noch bis Sonntag, 9. Februar, erkundet die Schau „Zeitfragmente“ zumal die grafischen Schätze der Sammlung. Und erschließt damit einen wichtigen zeitgeschichtlichen Kontext der Kunst des Blauen Reiters, dessen Wirken mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende fand.


Die Schrecken des Krieges haben ihren Niederschlag wiederum gefunden in den bewegenden Drucken von Otto Dix oder George Grosz, die den Zerfall politischer und sozialer Ordnungen ins Zentrum rücken. Ein Hauptstück der Ausstellung ist Wilhelm Lehmbrucks „Der Gestürzte“, bewegendes Zeitdenkmal und auch eine Reminiszenz der neuen Museumsdirektorin an ihre ehemalige Wirkungsstätte in Duisburg.
Kurzum: Das Franz Marc Museum ist ein attraktiver Ort für alle, die sich für Kunst interessieren und – was keineswegs selbstverständlich ist – auch für alle, die sich noch nicht für Kunst interessieren. Die Größe der Ausstellung ist nicht überwältigend und die präsentierten Werke erschließen sich, wenn nicht figürlich, so doch aufgrund ihrer Farbkompositionen und ihrer unmittelbar erfahrbaren Fantasie. Gerade Kindern könnte damit ein erster Zugang zur Museumskultur eröffnet werden, was das Museum durch kindgerechte Workshops in den Schulferien (zum Beispiel zur Hinterglasmalerei oder zum Filzen) unterstreicht.
Das Museum ist relativ bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. So fahren die Züge der Werdenfelsbahn den Kochler Bahnhof im Stundentakt an. Von dort aus kann man den Bus nehmen oder die Busfahrt durch einen etwa fünfzehnminütigen, gut ausgeschilderten Spaziergang ersetzen. Es lohnt sich, insbesondere im Januar, wenn nach dem Gang durch die graue Kälte die Feiern aus Rot, Blau und Gelb auf einen warten.
Das Franz Marc Museum ist Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen geöffnet von 10 bis 17 Uhr (April bis Oktober 18 Uhr), Eintritt 9,50 Euro, Kinder 3,50 Euro, bis 6 Jahre frei; Informationen unter www.franz-marc-museum.de
In jeder Hinsicht malerisch: ein Ausflug auf die Kohlleite
Wer im Anschluss an den Museumsbesuch den Drang verspürt, es den Künstlerinnen und Künstlern des Blauen Reiters gleichzutun und in die Natur einzutauchen, dem bieten sich diverse Optionen. Naheliegend sind ein Gang durch den feinen Skulpturengarten des Museumsparks oder eine Promenade an den Kochelsee, was zwischen Frühling und Herbst auch mit einer Schiffsrundfahrt kombiniert werden kann. Das Museum bietet entsprechende Kombitickets an.


Doch besonders reizvoll ist eine Minitour, die ausgehend vom Bahnhof etwa dreißig Minuten dauert. Dafür verlässt man das Bahnhofsgelände rechter Hand, um links in die Kalmbachstraße einzubiegen. Stets geradeaus, an der Polizeistation vorbei, erreicht man einen steilen Schotterweg. Der Weg gehört zur Kohlleite, einem Hügel, den Franz Marc als Malort geschätzt hat. Ein kurzer Anstieg führt zum Aussichtspunkt, vor dem sich ein in jeder Hinsicht malerisches Panorama über See und Voralpen ausdehnt.
Die Künstlerin Silke Lühr bietet zudem einen erweiterten, etwa eineinhalbstündigen „Kunstspaziergang“ an, der Franz Marc und seinen Lieblingsmalplätzen in Kochel nachspürt (Anmeldung an silke.luehr@gmx.net oder 0157 57 46 80 01).
Zur Stärkung ein veganes Gulasch
Das gastronomische Angebot Kochels ist angesichts der überschaubaren Größe des Dorfs vielfältig. Gutbürgerliche Küche mit eigenem Dreh gibt es etwa im Restaurant Kochler Stuben oder im Seehotel Grauer Bär (Betriebsruhe bis Ende Februar). Ein kleines Juwel ist Tiny Soul in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof.

Das Bistro-Restaurant spezialisiert sich auf vegetarische und vegane Küche, was in der Region eine Besonderheit ist, und das auf denkbar unprätentiöse Weise. Die Atmosphäre in der alten Schmiede ist zwanglos, das Essen international, sodass mit derselben Expertise Ramen und veganes Gulasch zubereitet werden. Immer auf der Karte stehen pflanzliche Burger, Curry und Kuchen, wobei Hauptgerichte zu Preisen um 15 Euro zu haben sind.
Öffnungszeiten: Donnerstag/Freitag 17 bis 22 Uhr, Samstag/Sonntag 11 bis 22 Uhr, Bahnhofstraße 9, Kochel, Informationen unter www.tiny-soul.de