An einer Wäscheleine flattern Fotos von ein, zwei Dutzend Häusern, unscheinbar und grau die einen, groß und stattlich die anderen. Sie stehen in der Rothmund-, Westend- oder Milchstraße, in der Bodensee-, Thiersch- oder Lilienstraße. Allen gemein ist, dass sie ganz oder weitgehend leer stehen, und dass sie der Stadt gehören.
Vor der improvisierten Fotogalerie, die im Innenhof des Hauses Gollierstraße 86 aufgehängt ist, sitzen an Bierbänken einige Münchner, hinter und neben ihnen der Schattenriss einer Schnecke. Der Verein "Selbstbestimmtes Wohnen München" (SWM) hat eingeladen, um seine Idee vorzustellen, was man aus solchen verwaisten Häusern machen könnte: Ein selbstverwaltetes Wohnprojekt, eines, das seinen Bewohnern günstige Mieten garantiert und die Häuser vor Spekulanten rettet. Es ist, für den Münchner Wohnungsmarkt, ein beinahe revolutionäres Vorhaben. "Paläste für alle!" steht, nicht ganz ernst gemeint, auf einem Transparent. "Wohnen soll nicht Ware sein."
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Muss sich die Stadt darum kümmern, dass Wohnen wieder bezahlbar wird? Und können Hochhäuser die Wohnungsnot im überfüllten München lindern? Beim Wahl-Thesentest der SZ haben Hunderte Kandidaten für den Münchner Stadtrat mitgemacht. Die Auswertung.
Noch hat die Projektgruppe, der 20 Erwachsene mit fünf Kindern angehören, kein Haus. Es könnte das in der Gollierstraße 86 sein. Es gehört der städtischen Gesellschaft GWG, die meisten Wohnungen hier stehen leer, teilweise schon seit dem Jahr 2000. "Substandard, nicht marktgängig", lautet der offizielle Kommentar in der langen Leerstandstabelle, die die Stadtverwaltung zum Jahreswechsel dem Stadtrat vorgelegt hat. Genau solche Objekte, mit 400 bis 600 Quadratmetern Wohnfläche, suchen die Leute vom Wohnprojekt: Sie suchen keinen Luxus. Sie würden selbst bestimmen, wer was für wie viel Geld saniert, und dabei auch mithelfen, um Geld zu sparen.
"Wir verfügen über ausreichend Erfahrung im Planen und Umsetzen von Sanierungen", sagt Claus Sasse. Am Ende sollen Mieten herauskommen, die zehn Euro pro Quadratmeter nicht übersteigen. Möglich ist dies, weil die Gruppe keine Rendite erwirtschaften muss, anders als private Investoren.
"Die Schnecke nimmt Fahrt auf"
"El caracol" haben sie ihr Projekt genannt, das ist Spanisch für "die Schnecke". Der Name geht auf einen kolumbianischen Film zurück, in dem Bewohner trickreich ihr Haus vor Spekulanten retten. Die Leute im Hof der Gollierstraße wollen so "geduldig und beharrlich" wie eine Schnecke ans Werk gehen, gilt es doch eine in München noch weitgehend unbekannte Idee zu realisieren. "Die Schnecke nimmt Fahrt auf", sagt York Runte.
Wohnen in München:Genossenschaften lassen Bagger rollen
Plötzlich treten in München ganz neue Immobilienakteure auf den Plan: Mehr als 2500 neue Wohnungen wollen die Genossenschaften bis 2020 bauen. Zum einen ermuntert sie die Stadt dazu, zum anderen ändert sich in der Szene gerade einiges.
Er weiß, wovon er spricht. Er wohnt selbst schon in einem Wohnprojekt, in der Ligsalzstraße 8, dem bisher einzigen in München, das zum "Mietshäuser Syndikat" gehört. Auch dieses Haus stand einst leer. Der Verein SWM will nun mit "el caracol" ein zweites derartiges Projekt schaffen, wenn ihm die Stadt eines der vielen leer stehenden Häuser verkauft. Das "Syndikat" funktioniert so: Eine GmbH mit zwei Gesellschaftern kauft das Haus; bestimmender Gesellschafter ist der Verein SWM, in dem ausschließlich Bewohner Mitglied sind; zweiter Gesellschafter ist die bundesweit organisierte Mietshäuser Syndikat GmbH. So ist laut Runte sichergestellt, dass ein Haus dauerhaft in Gemeinschaftsbesitz bleibt und nicht irgendwann an einen Investor geht.
Etwa 80 Projekte gehören bundesweit zum Mietshäuser Syndikat, "die laufen alle gut", versichert Runte. Im Münchner Projekt sollen Wohnungen für Familien, Alleinstehende und Wohngemeinschaften entstehen, auch Gemeinschaftsräume soll es geben, wie etwa im "Ligsalz 8". Solche Räume, auch das gehört zum Konzept selbstverwalteten Wohnens, sollen offen sein für Nachbarn aus dem Viertel, das ganze Quartier soll profitieren.
Als nächstes möchte "el caracol" mit der Stadt ins Gespräch kommen. Erste positive Signale aus dem Rathaus habe man bereits empfangen. "Wir erwarten, dass die Stadt nach der Wahl zügig einen runden Tisch einberuft", sagt Sasse. "Wenn sie es nicht tut, dann machen wir es." Diverse Referate sind mit den städtischen Immobilien befasst, dazu die kommunalen Wohnungsunternehmen. Unterstützt werden die Leute aus dem Wohnprojekt bereits von den Grünen: Die haben jetzt einen Antrag im Stadtrat eingereicht, in dem sie genau einen solchen runden Tisch fordern, um des günstigen Wohnens willen.