Wachstum:Zwölf Gebote für den Münchner Wohnungsbau

Baustelle für Miethaus auf dem Domagk-Gelände in München, 2016

Im gesamten Münchner Stadtgebiet wird gebaut, und doch ist die Nachfrage nach Wohnungen immer noch deutlich höher als das Angebot.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Um wirklich lebenswerte Stadtquartiere zu schaffen, braucht es mehr, als nur Wohnraum zu schaffen.

Von Gerhard Matzig

Man könnte beispielsweise demnächst im "Ludwig" zwischen Odeonsplatz und Karolinenplatz wohnen. Theoretisch. Dann nämlich, wenn man anderthalb Millionen Euro für eine Drei-Zimmer-Wohnung übrig hätte, um Teil des "elegant-urbanen Lebens" in München zu werden. Die "zeitlos eleganten Eigentumswohnungen", die auch mit "Retro-Look, halbelegant" nicht falsch beschrieben sind, richten sich an die "Liebhaber des Schönen". Und übrigens auch an die Freunde "bodengleicher Duschen", "lichtdurchfluteter Essbereiche" oder eines sagenhaften "SkyDecks" im achten Obergeschoss.

Was auch immer das sein mag. Sollte es nicht der private Hubschrauberlandeplatz sein, so wird es sich wohl um eine simple, aber womöglich überteuert möblierte Dachterrasse handeln. Manchmal fragt man sich, ob die enorme Energie, die darin steckt, solche Immobilien-Lyrik zu erfinden, nicht sinnvoller zu nutzen wäre. Denn bei allem Verständnis für die Mechanik des Marketings: Wenn die Wohnimmobilien "mynido", "Loge Nr. 1" oder "Easy" auch nur halb so gut wären, wie sie sich anhören, könnte München seinem Elend alsbald entfliehen.

Dieses Elend besteht nicht allein darin, dass es viel zu wenige Wohnungen zwischen dem kaum erschwinglichen "Alpenpanorama" im Süden und dem schon realistischeren Blick auf den Ex-Müllberg von Fröttmaning im Norden gibt; das Desaster besteht vor allem darin, dass die meisten neueren Wohnviertel, die in den letzten Jahren in München entstanden sind, so armselig schlecht geplant wurden. Wer die Möglichkeiten eines ambitionierten Städtebaus kennt, der weiß, dass München in Deutschland ein sehr einsames und sehr kleines Schlusslicht darstellt in der Liga zeitgenössischer Wohnarchitekturen. Kein Wunder: Egal, was gebaut wird - es lässt sich an der Isar im Sekundentakt verkaufen. Sei es auch noch so schäbig.

Vieles von dem, was zuletzt zwischen "Domagk-Park" und "Südseite" realisiert wurde, besitzt die Anmutung billigster Wohnregale vom Wühltisch der Möbeldiscounter. In den dort eher wie aus großer Höhe abgeworfenen, statt umsichtig situierten Silos der immer gleichen, schuhschachteligen Banal-Machart lebt man nicht; man wird darin nur verwahrt. In München ist man mitunter kein Wohnender, sondern ein Insasse.

Keine Frage, es gibt Ausnahmen wie "Baumkirchen Mitte" oder auch das "Schwabinger Tor". Aber erstens geht es gerade in den stadträumlich gelungeneren Quartieren zumeist um absurd hohe Preise. Und zweitens nutzt solche Exotik der Stadt München nicht. Was man an der Isar braucht, sind keine einzelnen Enklaven der Exklusionsgesellschaft, sondern viele vital ausstrahlende Wohnquartiere. Zu deren Funktionalität sollte übrigens auch die Ästhetik zählen.

"Ich verlange", sagte der österreichische Satiriker Karl Kraus am Beginn des 20. Jahrhunderts, "von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst." Wie sich herausgestellt hat, ist das ein Irrtum. Oder es leben einfach zu wenig gemütliche Menschen in Wohnanlagen wie an der Welfenstraße. Vielleicht wären die Baupolitiker, Architekten und Investoren doch gut beraten, die üblichen Moderne-Floskeln einmal beiseite zu lassen, um darüber nachzudenken, was es denn ist, was die Menschen zu einem Ort sagen lässt: Hier möchte ich leben.

Im Grunde ist es so simpel, dass man sich fragen muss, warum das Wissen um die Herstellung stadt- und wohnräumlicher Qualität in München nicht fruchtet. Vor allem könnte man aus den Fehlern der jüngeren Projekte lernen, wie man auch von den Lösungen vergangener Zeitschichten profitieren könnte. Das reicht von hervorragend gelungenen Siedlungen wie der in den Zwanzigerjahren in Moosach realisierten "Borstei" (nach dem Unternehmer und Architekten Bernhard Borst) bis zum Olympischen Dorf und seinen Studentenbungalows, die vom jüngst erst verstorbenen Architekten Werner Wirsing entworfen wurden.

Immer wieder die gleichen Fehler

Dabei sind es heute fast immer die gleichen Fehler, die so beratungsresistent perpetuiert werden, dass man am guten Willen der beteiligten Planer und Politiker zweifeln muss.

Erstens werden die Siedlungen meist auf der grünen Wiese realisiert. Wichtig ist aber gerade dort, im peripheren Raum der Stadt, die verkehrliche Ein- und Anbindung. Das gilt, ob Auto, Fahrrad, Bus oder Bahn, für alle Vehikel der Mobilität. Am besten wäre natürlich der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Aber schon ein einziger S-Bahn-Tunnel überfordert die Stadt München.

Zweitens gibt es dort, wo die meisten neuen Wohnungen entstehen, viel zu selten von Anfang an Konsum- und Dienstleistungsmöglichkeiten. Oder schulische Einrichtungen. Wie kann man ein riesenhaftes Stadtviertel aus dem Boden stampfen, ohne ein Gymnasium an gleicher Stelle von Anfang an mitzudenken (wie in der Messestadt geschehen)? In dieser Hinsicht zumindest hat die Stadt aber inzwischen offenbar dazu gelernt. In Freiham sind die ersten Schulen schon fertig, obwohl noch niemand dort wohnt.

In der Messestadt Riem kann man drittens auch besichtigen, was passiert, wenn man - statt einzelne Läden, Werkstätten oder gastronomische Betriebe in der Erdgeschosszone (wie in Schwabing) unterzubringen - eine "Mall" plant. Das städtische Leben im Wohnbereich stirbt sofort ab, die Räume sind tot. Unten einkaufen oder ins Café gehen, oben wohnen. So einfach funktioniert Manhattan, so simpel funktioniert auch Barcelona. Ist das denn so schwer zu begreifen?

Viertens ist es gut, wenn die Häuser mehrheitlich nicht als Punkt- oder Riegel-Bauten, sondern als durchbrochene Hof-Ensembles angeordnet werden. Auch hier ist die Raumbildung an Simplizität nicht zu überbieten und schon lange bekannt: Straße, Baumreihe, Bürgersteig, Läden - und darüber das Wohnen. Das Ganze im Block. Das ist alles.

Fünftens könnte, ja müsste München viel dichter bebaut werden. Das heißt nicht in erster Linie Wohnhochhäuser, aber es meint zwei oder auch drei Etagen mehr.

Sechstens ist ein Stadtteil auch in der Höhenentwicklung zu rhythmisieren. Wie vital und urban Städte sind, in denen neben dem geduckten Häuschen plötzlich ein halber Riese aufragt, lässt sich an London sehen. Auch für Paris oder Wien gilt: Das sind hochgebaute, dichte Städte. Darum sind sie ja so schön.

Siebtens ist die Forderung nach mehr Rhythmus auch in soziologischer Hinsicht zu verstehen. Die Menschen wohnen zwar gern homogen - aber seltsamerweise entsteht erst in der Heterogenität und Durchmischung der Klassen und Milieus das, was man "Urbanität" nennt. Städte sind Integrationsmotoren unterschiedlicher Anschauungen und Biografien. Deshalb sind sie auch ein Habitat der "creative class" (Richard Florida). Diese Durchmischung muss man fördern. Und zwar sowohl innerhalb der Quartiere wie auch in deren kleinsten Einheiten. Das sind die Wohnhäuser selbst.

Achtens: Es gibt in München fast nur Standard-Grundrisse und Standard-Wohngrößen. Hier ist viel mehr Vielfalt geboten. Winzige Wohnungen gehören ebenso zu lebendigen Städten wie große und familientaugliche Wohnungen. Die Grundrisse müssen flexibler und variantenreicher werden. Gute Wohnhäuser haben auch öffentliche Räume der Gemeinschaft. Das sind dann vielleicht keine SkyDecks, möglicherweise aber Dachschrebergärten.

Neuntens sind funktionierende Städte und Stadtquartiere keine Ego-Shooter-Spielflächen. Ihre Leistung entspricht eher einem Chor. In einem solchen Chor gibt es zwar auch die wichtigen Solisten - aber das Ensemble ist letztlich das große Ganze, worum es geht. Das gilt insbesondere für die Fassadengestaltung. Auf diesem Gebiet möchte man den Architekten zurufen: Müsst ihr euch denn immer wieder neu erfinden? Muss jedes kleine Ding immer auch ein großes Spektakel sein? Die besten Fassaden sind die, die man lesen kann - und die sich in den Dienst der Sache und des Viertels fügen. Etwas mehr Demut wäre hier gleichbedeutend mit wahrem Mut.

Zehntens: Es ist mehr als ein Jahrhundert her, dass der österreichische Architekt Adolf Loos inmitten eines zuckerbäckerartig delirierenden Historismus sein berühmtes Manifest "Ornament und Verbrechen" verfasst hat. Schmuckvolle Texturen und Architekturen, die Kunst der Ornamentik also, sind längst rehabilitiert - und nicht alles, was schmucklos "modern" ist, ist auch schon "Bauhaus". Das heißt: Häuser dürfen auch "schön" in einem unexzentrischen, normalen Sinn sein. Wer Angst vor dem Mittelmaß hat, ist schon mittelmäßig. Das Verbindliche, nicht das Provozierende ist die Kunst der Stadt.

Wertvolle Glücks- und Grünräume sind, elftens, das Ergebnis sorgfältiger Freiflächenplanung. Und nicht das, was man am Ende, wenn das Budget erschöpft ist, mit ein bisschen grüner Farbe noch eilig auf den Plan kringelt. Gerade weil sich die Städte verdichten, müssen sie auch viel grüner und freiräumlicher werden. Das ist kein Widerspruch, sondern Logik und eine dringend gebotene Antwort auf den Klimawandel.

Und zuletzt, zwölftens: Identität ist der Rohstoff der Gegenwart. Das hat mit Zeit zu tun. Häuser und Viertel müssen wachsen und eine Identität entwickeln können. Wo sie aber schon wohnt, muss man sie bewahren. Heute wird im Dienst der Gentrifizierung, des Renditestrebens und unfassbar närrischer Baugesetze viel zu schnell abgerissen, um möglichst alles neu, alles energieeffizient und alles rentabel zu machen. Das Gegenteil ist richtig. Nur Häuser und Stadtteile mit unterschiedlichen Gebrauchsspuren und der Fähigkeit zur Patina können so etwas wie Heimat sein. Und nur Städte, die auch ihrer Vergangenheit wegen geliebt werden, haben Zukunft.

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