Süddeutsche Zeitung

Wohnraum:Austoben auf der Spielwiese

Wenn Genossenschaften bauen, können im Idealfall gute Architektur und echte Gemeinschaft entstehen. Bei einer Podiumsdiskussion fordern Experten, dass die Stadt solche Projekte aktiv unterstützt

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Auf der Ringterrasse genießen die zwei Dutzend Besucher erst einmal den Ausblick. Von Süden her grüßt urbanes Großstadt-Feeling mit den erleuchteten Fenstern der Highlight-Towers; in Richtung Norden huscht der Blick über das pittoreske Ensemble dieser verschachtelten Wohnanlage, eine Art Pueblo-Komplex, verbunden mit einer umlaufenden Terrasse. Unten, auf dem "Dorfplatz", lärmt eine Schar Kinder. "Solchen Mut zur Kreativität müsste es mehr geben in der Stadt", sagt der Grünen-Stadtrat Herbert Danner. Ein Satz, der oft fällt an diesem Abend.

Das Münchner Forum hat zur Podiumsdiskussion mit Architekten und Wohnungsbauinitiativen in den Veranstaltungsraum von WagnisArt geladen, dem viel beachteten Wohnbau-Projekt der Genossenschaft Wagnis im Neubaugebiet Domagkpark. Der Titel: "Unser Quartier von morgen - Visionen für eine nachhaltige Entwicklung". Es soll um Perspektiven für die Stadtentwicklung gehen, wie und ob sich der Wohnungsbau "nachhaltig" im Sinne von dauerhaft tragfähigen sozialen, ökologischen, ökonomischen und technischen Zielvorgaben entwickeln lässt.

Alle bis auf einen, den Vertreter des Planungsreferats, sind sich einig: Ja, das geht, wenn die Stadtverwaltung mehr Mut aufbringen würde und mehr Bauwerbern ähnlichen Freiraum zum Experimentieren gewähren würde, wie es bei WagnisArt der Fall gewesen sei. Die sinngemäße Botschaft nach drei Stunden Debatte: Die Stadt soll sich den Nachhaltigkeits-Ansatz der Genossenschaften zum Vorbild nehmen - und ihnen als innovativen Akteuren mehr Entfaltungsmöglichkeiten geben.

In der Tat gilt die Wohnanlage der Münchner Genossenschaft Wagnis als Modell für nachhaltigen Wohnungsbau, wie der projektbegleitende Forschungsbericht der Technischen Universität München (TUM) nahelegt. Von einem "zukunftsfähigen Ausnahmeprojekt" ist die Rede. 180 Genossen brachten dafür 42 Millionen Euro zusammen. In ungezählten Workshop-Sitzungen planten sie ihre Anlage, legten allerlei Gemeinschaftsbereiche wie Terrassen, Werkstätten, Ateliers fest, dazu eine "gemeinschaftsfördernde Architektur", wie der TUM-Bericht anerkennend ausführt. Diesen Bauherren geht es nicht nur ums miteinander Wohnen, es geht um gemeinsamen Lebensraum. Die Anlage sollte eine Art Dorfgemeinschaft mit glänzender Energiebilanz sein. Die Gebäude sind nach Passivhaus-Standard errichtet, es gibt eine Photovoltaikanlage und eine Mobilitätsstation mit Leih-Fahrrädern.

Das Ganze entstand auf dem Gelände der ehemaligen Funkkaserne, das in Baufelder fragmentiert zum Neubauquartier umgestaltet wird. Es ist eine der letzten großen Entwicklungsflächen in der Stadt, durchgezogen unter der Ägide eines Konsortiums aus Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und freien Bauträgern. "Wir hatten hier eine enorme Spielwiese, uns mit den Bewohnern den Städtebau zu erarbeiten", sagt der WagnisArt-Architekt Walter Hable auf dem Podium. Er spricht von einer "weißen Fläche", von wenigen Vorgaben durch den Bebauungsplan, dazu zweieinhalb Jahre Planungszeit. Die Stadt, so sein Appell, müsse das viel öfter ermöglichen, "mehr Mut" zeigen. "Es sollten nur die Räume definiert werden, nicht die Baukörper." Patric Meier, Architekt der Baugemeinschaft "Gemeinsam größer" - diese errichtete auf dem Areal ein Haus für 26 Parteien - fordert von der Stadt, die Flächen im Vergabeverfahren nicht nach einem "Pseudo-Ranking" zu vergeben. Er meinte damit die Bewertungs-Matrix der Behörde, nach der die Konzepte der Bau-Bündnisse beurteilt werden. "Die Stadt muss sich trauen, die Menschen, die sich bewerben, genauer anzuschauen."

Die Stadtverwaltung als Zögerer und Zauderer - diesen impliziten Vorwurf weist Steffen Kercher freundlich, aber bestimmt zurück. Der Baudirektor hebt hervor, dass auf Konversionsflächen wie im Domagkpark oder in Freiham 20 bis 40 Prozent für Genossenschaften und Baugemeinschaften reserviert sind. Er verleiht zwar seiner Hochachtung für das WagnisArt-Projekt Ausdruck, lässt aber durchblicken, dass er dies als seltenen Glücksfall einschätzt. "Große Freiheit braucht große Verantwortung. Und dem ist nicht jeder Architekt gewachsen." Bei allem Enthusiasmus der Genossen - Kercher konstatiert, dass die breite Masse der Bürger nicht die Zeit und wohl auch nicht die Lust hat, über Jahre an einem kollektiven Planungsprozess teilzuhaben. "Überdies machen uns die Genossenschaften ganz schön viel Arbeit, gemessen an der kleinen Zahl von Wohnungen, die sie schaffen."

Alle anderen Anwesenden lassen sich in ihrer Begeisterung für das WagnisArt-Projekt nicht beirren - und auch nicht in dem Appell, dass es der Stadt als Beispiel für zukünftigen Wohnungsbau dienen möge. "Man muss nur den Mut haben, es zuzulassen", sagt ein Besucher.

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SZ vom 03.11.2017
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