Wohnprojekt für junge Mütter:Auf eigenen Füßen

An der Pilotystraße betreut die Diakonie vier Wohngruppen für junge Mütter und ihre Kinder.

Mit Unterstützung der Diakonie gehen an der Pilotystraße junge Mütter und ihre Kinder die ersten Schritte ins neue Leben.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

An der Pilotystraße betreut die Diakonie vier Wohngruppen für junge Mütter und ihre Kinder. Hier sollen sie lernen, auf Körperpflege, Essverhalten und den Haushalt zu achten - und auf sich selbst.

Von Anna Hoben

Drüben in der Küche wird das Abendessen zubereitet, und Leon darf schon mal ein Eierbrot stibitzen, ausnahmsweise. "Aber nicht im Wohnzimmer", sagt seine Mutter Jenny, als der Sechsjährige mit dem Brot in der Hand zu ihr aufs Sofa hüpft, "gegessen wird in der Küche". Leon trottet davon, zurück in die Küche, wo auf dem Tisch schon ein ganzer Teller mit in der Pfanne gebratenen Arme-Ritter-ähnlichen Brotscheiben steht. Daneben eine aufgeschnittene Melone, Gemüse. Um 18.30 Uhr ist Abendbrotzeit, feste Strukturen sind wichtig im Haus.

Leon hat noch einen Bruder, Sinan, vier Jahre alt. Mit ihrer Mutter Jenny, 23, wohnen die beiden in einer Einrichtung der Diakonie im Lehel, "Wohngruppen für Schwangere und junge Mütter sowie deren Kinder". Sinan flitzt über den Gang, öffnet eine Tür: an einer Wand ein Doppelstockbett, an der anderen ein Einzelbett, davor ein Tisch mit Cremes, Kosmetika und Spiegel. Viele Bilder an den Wänden, Sinnsprüche. Ein Regal in der Mitte dient als Raumteiler. Und dann ist da noch ein Tipi, zwischen Hochbett und Spielteppich. "Hier schlafe ich", verkündet Sinan stolz. Das Reich von Jenny, Leon und Sinan, es ist gleichzeitig ein Kinderzimmer und der Rückzugsort einer sehr jungen Frau.

Eine besondere Wohngemeinschaft ist das hier an der Pilotystraße. Bis zu zwölf Frauen können mit ihren Babys und Kleinkindern in dem Haus wohnen, jeweils drei Mütter teilen sich eine Wohnung. Die ersten zogen im Herbst 2016 ein. Junge Frauen, die nicht die körperliche, seelische oder soziale Reife besitzen oder bedingt durch Probleme kein eigenständiges Leben führen können. "Von der Prognose her sind sie nicht in der Lage, gut für ihr Kind zu sorgen", sagt Andreas Dexheimer, er leitet die Jugendhilfe Oberbayern der Diakonie, die das Projekt betreibt. Um dies zu lernen, dazu sind sie hier. Und um es am Ende doch zu schaffen, entgegen der Prognose.

Jahrelang hatte die Stadt München das Haus an der Pilotystraße fast komplett leer stehen lassen. Erst nachdem die Aktivisten der "Goldgrund"-Truppe auf die Situation aufmerksam gemacht hatten, kam Bewegung in die Sache. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewofag ließ das Haus sanieren und vermietete die Wohnungen an die Diakonie.

Die jüngsten Bewohnerinnen sind gerade mal 14 Jahre alt, die ältesten Anfang 20. Meistens schickt sie das Jugendamt. Sie kommen hierher, weil es zu Hause zu beengt ist. Weil sie in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sind, manche haben Gewalt erfahren, manche sind traumatisiert. Manche haben einen Fluchthintergrund, manche Kinder sind durch eine Vergewaltigung entstanden. Manche Frauen sind selbst noch fast Kinder oder stecken mitten in der Pubertät - und sind überfordert damit, sich plötzlich um ein kleines Wesen kümmern zu müssen.

An der Pilotystraße betreut die Diakonie vier Wohngruppen für junge Mütter und ihre Kinder.

Die Leiterin der Einrichtung: Marija Renjic.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das Haus nimmt die Mütter auch dann auf, wenn sie zuvor von anderen Einrichtungen abgelehnt worden sind. Gerade dann. Das Betreuungskonzept ist einzigartig, "intensiver geht es nicht", sagt Dexheimer. Das heißt, dass alles ausprobiert wird, um eine Inobhutnahme des Kindes zu vermeiden und ein Zusammenleben zu ermöglichen. Es heißt, dass die Mütter und ihre Kinder von 20 Fachkräften betreut werden. "Das ist schon ein irrsinniger Personalaufwand", sagt Dexheimer. Marija Renjic sagt: "Das wird aber auch gebraucht."

Die Frau mit dem großen optimistischen Lächeln leitet die Einrichtung gemeinsam mit Dagmar Dietrich. Renjic und Dietrich sprechen von einer Drei-Generationen-Hilfe: Vor allem kümmern sich die Mitarbeiterinnen natürlich um die jungen Mütter und ihre Kinder. Bei minderjährigen Müttern bekommen aber auch deren Eltern Unterstützung und Beratung. Jenny, die zweifache Mutter, hat zu ihren leiblichen Eltern keinen Kontakt. Sie ist in einer Pflegefamilie und im Heim aufgewachsen. Als Jugendliche sei sie "auf der schiefen Bahn" gewesen, erzählt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, das sich jede Wohngruppe teilt.

Eine Leseecke, Couch und Fernseher, eine Spielecke, alles sehr aufgeräumt. Oft habe sie Probleme mit der Polizei gehabt, sagt Jenny, sei in Schlägereien verwickelt gewesen und immer wieder aus dem Heim ausgebüxt. Irgendwann wurde sie schwanger. Als Leon geboren wurde, war sie gerade mal 16 - und alles war plötzlich ganz anders. "Es war, als wär' ich in einem anderen Leben." Im Leben einer jungen Mutter: Windeln wechseln, Fläschchen geben, nachts mehrmals aufwachen.

Die Frauen lernen auch, selbst Grenzen zu setzen

Jenny kam mit Leon in eine Mutter-Kind-Einrichtung in Rosenheim, später dann nach München an die Pilotystraße. In einer Therapie arbeitet sie zurzeit ihre Vergangenheit auf. Sie will ergründen, warum sie oft so impulsiv ist, schnell anfängt zu schreien. Sie macht Fortschritte. Für die Zukunft hat sie einen Plan. Nach dem Sommer ins sogenannte einzelbetreute Wohnen ziehen, einen Nebenjob suchen, den qualifizierten Hauptschulabschluss nachholen und dann eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten machen. Sie hat ein dreiwöchiges Praktikum in einer Kanzlei absolviert und "einfach alles" daran habe ihr gefallen. "Akten anlegen und ablegen ist sehr interessant", sagt nun diese Jenny, die früher so oft mit der Polizei aneinandergeriet. Sie sieht plötzlich sehr erwachsen aus. Sie strahlt.

Ihr Sohn Leon kommt im Herbst in die Schule, jetzt aber kommt er erst mal ins Wohnzimmer und schleppt irgendetwas an, das er unter dem Bett seiner Mutter gefunden hat. Die findet das weniger gut, Marija Renjic ermahnt Leon: "Du musst die Mama erst fragen, ob du in ihren Bereich darfst." Leon: "Mama, darf ich in deinen Bereich?" Ein bisschen spät zwar, aber immerhin fragt er. Grenzen setzen, das ist eines der wichtigsten Dinge, die die jungen Frauen hier lernen. Die eigenen Grenzen definieren, auch gegenüber Fremden.

Es sind kleine Erfolge, über die Marija Renjic sich freut. "Wenn wir einem Kind zum Beispiel eine Schokolade geben wollen und die Mutter sagt, nein, der hatte heute schon zwei." Oder auch, wenn eine junge Mutter der Reporterin auf die Frage, ob sie sie zur Krippe begleiten könne, um den Sohn abzuholen, antwortet: "Nein, das möchte ich nicht." Jenny sagt, sie habe hier vor allem gelernt, wie man in verschiedenen Situationen reagieren könne.

Die jungen Frauen lernen, ein erwachsenes Leben zu führen. Auf sich selbst zu achten, auf Körperpflege und Essverhalten. Ordnung zu halten, einen Haushalt zu führen, einkaufen zu gehen. In sich hineinzuhorchen, zu spüren, wie es ihnen geht. Es ist die Voraussetzung dafür, dass sie auf ihre Kinder achten können, dass sie dessen Signale wahrnehmen - und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen.

Sie müssen lernen, dass es wichtiger ist, eine Windel zu wechseln als ein Selfie zu machen. So wie jetzt gerade. Favour, 20, hantiert mit ihrem Handy, ihren einjährigen Sohn hat sie dabei nicht im Blick, auf wackligen Beinen läuft er umher und verschwindet im Flur. In solchen Situationen wird Marija Renjic sauer. "Du kannst mit dem Handy spielen, wenn er im Bett ist." Favour guckt reumütig und legt das Smartphone weg.

Vor zweieinhalb Jahren floh sie allein aus Nigeria nach Deutschland. Im Januar 2017 zog sie in das Wohnprojekt, im April kam Khaled zur Welt. Sie wollte erst nicht einziehen; es schien ihr viel zu streng, und dass sie nicht selbst kochen durfte, passte ihr gar nicht. Das gehört zum Konzept: Eine Haushälterin kocht, damit die Mütter sich anfangs auf ihre Beziehung zum Kind konzentrieren können. Favour entschied sich dann doch um. "Jetzt entwickelt sie sich wahnsinnig gut", sagt Renjic.

Nach dem ersten Jahr werde überlegt, welche schulischen und beruflichen Perspektiven es für die Mutter gebe, sagt Dagmar Dietrich. Eine Bewohnerin ist gerade mit ihrer Tochter ins sogenannte einzelbetreute Wohnen gezogen und beendet nun ihre Ausbildung. Oft geht das Konzept auf, aber nicht immer. Eine Mutter zieht nun zurück zu ihren Eltern, manchmal wird auch entschieden, dass das Kind in einer Pflegefamilie doch besser aufgehoben ist.

Jenny, die Mutter von Leon und Sinan, ist fest entschlossen, es zu schaffen: den Auszug, den Schulabschluss, die Ausbildung. Die nächsten Schritte in ihr erwachsenes Leben. Ihre Familie hat ihr keine guten Startbedingungen mitgegeben. Was sie damals nicht bekommen hat, das will sie mit ihren Söhnen besser machen. "Ich habe jetzt meine eigene Familie."

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