Süddeutsche Zeitung

Wissenschaft:Freude am Entdecken

Seit August forscht und lehrt Karen Radner in München als Humboldt-Professorin für Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens. Die Ludwig-Maximilians-Universität erhofft sich von ihr einen Paradigmenwechsel: einen Aufbruch in die Weltgeschichte

Von Jakob Wetzel

In München hat Karen Radner nicht viel Zeit verloren: Kaum hat die 43-jährige Österreicherin ihre Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) angetreten, da ist sie schon wieder fort, aufgebrochen in den Irak. Dort, bei Ranya, im kurdisch geprägten Nordosten des Landes, gräbt sie einen knapp 3000 Jahre alten Bauernhof aus. Mit einem internationalen Team aus Archäologen und Naturwissenschaftlern sucht sie nach Gebäuderesten, nach Tontafeln und Scherben. "Es gibt noch so viel zu entdecken", schwärmt sie. Und sie hofft dabei, Hinweise zu finden nicht nur auf die Vergangenheit dieses einen Ortes im irakischen Hinterland, sondern auf das große Ganze.

Was Radner tut, klingt exotisch, zumindest für deutsche Ohren: Sie ist eine der führenden Expertinnen für Mesopotamien zur Zeit des neuassyrischen Reiches vom neunten bis zum siebten Jahrhundert vor Christus. Dieses Reich gilt als erstes Großreich der Geschichte, es reichte von Ägypten bis zum Persischen Golf. Seine Herrscher unterwarfen ein Volk nach dem anderen, bis ihr Imperium kollabierte und zerfiel. Im Alten Testament gelten die Assyrer als die große feindliche Macht schlechthin. In der deutschen Geschichtswissenschaft dagegen spielt dieses Reich bisher kaum eine Rolle. Doch zumindest in München soll sich das nun ändern.

Seit Beginn dieses Monats ist Karen Radner Humboldt-Professorin für Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die LMU ist dies ein Prestige-Erfolg: Eine Humboldt-Professur ist der bestdotierte Forscherpreis Deutschlands, Universitäten bewerben sich mit eigens nominierten Wissenschaftlern. Die Bundesregierung will auf diese Weise etablierte Forscher aus dem Ausland an deutsche Hochschulen locken. Radner hat die vergangenen zehn Jahre am University College in London gearbeitet, die letzten fünf als Professorin. Ihre Arbeit in München finanziert nun fünf Jahre lang das Bundesforschungsministerium mit 3,5 Millionen Euro. Danach übernimmt die LMU.

Doch für diese hat die Professur noch eine Bedeutung: Sie soll nicht weniger als zu einem Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichtswissenschaft beitragen, verkündete die Universität im Oktober 2014, als Radners Berufung feststand. Die traditionellen Fächergrenzen sollten überwunden werden, die Forschung am Historischen Seminar der LMU solle sich ausweiten, über die griechisch-römische Antike hinaus. Es geht um die Zusammenhänge, nach denen auch Radner sucht.

Denn die Welt war schon in der Antike klein: Selbst im heutigen Spanien habe man den Einfluss von Assyrern, Babyloniern und Persern gespürt, sagt die Althistorikerin, und auch bei den Kelten im heutigen Salzburger Land, in dem Radner aufgewachsen ist. Nur deswegen sei sie ja überhaupt auf die orientalische Geschichte aufmerksam geworden.

Angefangen habe alles mit einer Ausstellung: Das Keltenmuseum in Hallein zeigte 1980 eine Landesausstellung über Kelten. Zu sehen war unter anderem das rekonstruierte Grab eines Fürsten aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Der Mann habe sich auf einem Streitwagen bestatten lassen. Für sie, die damals Achtjährige, sei das zugleich absurd und faszinierend gewesen, sagt Radner. Streitwägen gehörten in die Steppe, in den Wäldern Mitteleuropas seien sie unpraktisch gewesen. Selbst im Orient habe man sie damals militärisch längst weitgehend ausgemustert, sie wurden vor allem noch zu Repräsentationszwecken genutzt. "So ein Streitwagen macht halt was her." Und offenbar eiferte selbst der Keltenfürst im heutigen Salzburger Land dem fernen Perserkönig nach.

Später habe sie mit ihren Eltern den Nahen Osten bereist, erzählt Radner. Da sei sie besonders von Syrien beeindruckt gewesen. Nirgends seien die Ruinen so zerstört und verwittert gewesen wie hier. Katastrophen und Brüche hätten sie ja immer schon fasziniert. Und vor allem hatte sie den Eindruck, als gebe es nirgends im Nahen Osten so viel Unerforschtes wie hier.

"Ich leiste gerne Pionierarbeit", sagt Radner. Eine Perfektionistin sei sie nicht, im Gegenteil: "Die ersten 80 Prozent von etwas haben mich immer mehr interessiert als die letzten 20." Am liebsten wolle sie immer wieder neue Entdeckungen machen - welche, sei da fast schon zweitrangig.

Es ist Donnerstag, wenige Tage vor Radners Aufbruch in den Irak. Die Professorin sitzt in ihrem Zimmer, die Vorbereitungen für die Reise sind nahezu abgeschlossen, dabei ist sie noch gar nicht richtig angekommen. Gerade erst hat sie mit ihrem Mann und ihrem fünfeinhalb Jahre alten Sohn die neue Bleibe bezogen, im Büro hat sie am Mittwoch die letzten Bücher in die Regale geräumt, ebenso den Humboldt-Preis, der sich jetzt als Bücherstütze bewähren kann. Die Landkarten und Zeichnungen, die in London an der Wand hingen, hat sie noch nicht ausgepackt.

Radner ist eine energiegeladene Frau. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, redet sie sich rasch in Fahrt. Im Irak wolle sie eine Hühnerfarm ausgraben, sagt sie, dann korrigiert sie sich: Auf dem Gelände stehe nur heute eine Hühnerfarm, im alten Assyrien habe es ja gar keine Hühner gegeben. Die Tiere seien erst im sechsten Jahrhundert vor Christus eingeführt worden, zuvor habe man sie nur aus Berichten gekannt. Und weil Hähne einen Kamm tragen, der einer Krone ähnelt, habe man sie "Königsvögel" genannt. Es gebe Bilder, da würden assyrische Herrscher als Gockel dargestellt.

Der kurdische Teil des Irak sei für sie derzeit ein idealer Ort zum Arbeiten, sagt Radner. Gefährlich sei es hier kaum; der Islamische Staat, der zuletzt mehrere vorislamische Kulturstätten in der Region zerstörte, sei weit weg. Und wenn es doch heikel werde, könne sie auch in Usbekistan oder in Aserbaidschan weiterforschen. Das sei eben der Vorteil, wenn man sich nicht für bestimmte Gegenden, sondern für ein ausgedehntes Großreich interessiere. Bei den Kurden im Irak herrsche derzeit Goldgräberstimmung: Sie seien gierig auf ihre Geschichte, suchten nach einer nationalen Identität, sagt Radner. Freilich: Für die Kurden sind Radners Assyrer keine Ahnen, mit denen sie sich identifizieren würden, sondern Tyrannen und Unterdrücker - ganz wie in der Bibel. Das Ende des neuassyrischen Reiches gilt den Kurden als Geburtsstunde ihrer Nation.

Für Radner ist ihre Berufung nach München eine Rückkehr. Aufgewachsen ist sie in Hallein, studiert hat sie in Wien und Berlin, geforscht in Helsinki und in Tübingen, gelehrt in London. Aber habilitiert hat sie sich 2004 in München, am Institut für Assyriologie und Hethitologie an der Schellingstraße. Wenn man so will, ist sie nun auf die andere Straßenseite gezogen, ins Historische Seminar. Wenn sie aus dem Fenster sieht, blickt sie auf ihr früheres Institut.

"Ich freue mich sehr, dass die LMU so offen ist", sagt Radner. Ihre Professur sei in Deutschland ein Novum: Sie sei die erste für dieses Fachgebiet, die an einer historischen Fakultät angesiedelt ist. Bislang beschäftigten sich hier vor allem Kultur- und Sprachwissenschaftler mit den alten Assyrern, Historiker weniger. So gebe es zwar eine lange, hervorragende Tradition in Archäologie und auch in Assyriologie. "In den USA heißt es sogar, die wichtigste altorientalische Sprache sei Deutsch", sagt Radner: Die zentrale Forschungsliteratur zu Keilschriften sei in deutscher Sprache verfasst. Nur in der Geschichtswissenschaft kam das Forschungsfeld kaum vor.

"Dass ich einmal zurückkommen würde, hätte ich nie gedacht", sagt die Professorin. Aber das Angebot der Universität habe sie überzeugt. "Die LMU war in den Berufungsverhandlungen absolut souverän." Überzeugt habe sie nicht zuletzt deren Bereitschaft, in das Fach zu investieren. So kann Radner mit zwei Assistenten und zwei weiteren Mitarbeitern arbeiten, die sich etwa um die ägyptische Geschichte kümmern und darum, die wichtigsten Keilschriften digital zugänglich zu machen. "Es kommt mir so vor, als herrsche hier auch Aufbruchstimmung", sagt Radner. Nicht nur im Irak, auch in München.

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Quelle:
SZ vom 28.08.2015
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