Independent-Kultur:Anders denken, anders träumen

Independent-Kultur: Kreative Ehepartner: Mariko Takahashi und Stefan Winter brechen mit dem ehernen Gesetzen der Musikbranche.

Kreative Ehepartner: Mariko Takahashi und Stefan Winter brechen mit dem ehernen Gesetzen der Musikbranche.

(Foto: Felic Lammers)

Das Münchner Label Winter & Winter feiert 25-jähriges Bestehen. Viel mehr als Verkaufszahlen stehe hier Musik und künstlerische Visionen im Vordergrund. Große Ziele hat auch der Gründer Stefan Winter selbst.

Von Oliver Hochkeppel, München

Im Kulturbereich war ein Jubiläum zuletzt denkbar ungünstig. So hat Corona auch eine würdige Wahrnehmung verhindert, dass das Münchner Label Winter & Winter sein 25-jähriges Bestehen feiern konnte. Was freilich nicht bedeutet, dass sein Gründer und Leiter Stefan Winter nichts gemacht hätte. Er hat die im Frühjahr fälligen Festivitäten von vornherein auf ein Jahr gestreckt: Mit der einmal pro Monat erscheinenden CD-Reihe "My Choice", auf der die wichtigsten Künstler des Labels in einer Art Director's Cut die bedeutsamsten Stationen ihrer Karriere selbst zusammenstellen.

Was die besondere Beziehung des Labels zu seinen Künstlern illustriert. Ist doch Winter & Winter ebenso besonders wie sein Chef. Anders als die Patriarchen vergleichbarer Edelmarken wie ACT, ecm oder Enja ist Stefan Winter zum Beispiel kein Einzelgänger. Wie der Name seiner Firma andeutet, sollte ursprünglich sein Bruder Franz mit von der Partie sein. Es erwies sich allerdings, dass der Opernregisseur andere Vorstellungen von der Arbeit mit Musikern hat. Doch der Name passt trotzdem: Schon vor dem Start 1997 beriet sich Winter intensiv mit Mariko Takahashi, die er zuvor in ihrer Rolle als Label-Managerin bei Universal kennengelernt hatte. Seit Langem ist sie nun nicht nur Winters Frau, sondern auch die stille, aber umso kreativere zweite Kraft des Unternehmens.

Gemeinsam haben die beiden mit so ziemlich jedem Gesetz der Branche gebrochen. Zum Beispiel mit dem betriebswirtschaftlichen Credo: "Verkaufszahlen hatten noch nie eine Bedeutung dafür, mit einem Künstler weiterzumachen oder aufzuhören", betont Winter. Er sucht nach Musikern, bei denen er eine grundlegende Gemeinsamkeit zu sich spürt: dass sie machen müssen, was sie machen. Nach Künstlern im eigentlichen Sinne also. "Musik ist die einzige Kunstform, bei der es nur einen Massenmarkt und keinen Kunstmarkt gibt. Dagegen wehre ich mich", sagt Winter. So träumt er von einem Klang-Museum, mit "für Klangerfahrungen gebauten Räumen und mit Klanginstallationen." Temporär hat er das mit Klang-Raum-Projekten wie "The Ninth Wave" oder zuletzt "The Glass Cage" im November in der Rathausgalerie schon geschaffen.

Der Labelsitz in der Viktoriastraße ist eine Mischung aus gutem alten Plattenladen, Café, Galerie und Atelier

So ist der Ansatz von Winter & Winter seit jeher nicht nur genreübergreifend, sondern auch interdisziplinär. Im Katalog sind etliche Konzept- und Themenalben zu finden, es gibt eine Film- und Literatur-Edition, und das aufwendige Artwork der Alben zeugt von der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern. Bis der Hersteller es nicht mehr anbot, verlieh schon das Material, geriffelte Pappe nämlich, den CDs ein Alleinstellungsmerkmal. Ein Spiegelbild ist auch der Labelsitz in der Schwabinger Viktoriastraße: kein Büro, sondern eher eine Mischung aus gutem alten Plattenladen, Café, Galerie und Atelier.

So eigenwillig wie der Werdegang von Stefan Winter selbst. Statt das elterliche Lokal am Tegernsee zu übernehmen, ging er zum Jazzstudium nach Köln, Berlin und Bern, was ihm jedoch bald zu theoretisch war. So wurde Winter zunächst Volontär und Talentscout bei Enja. Als man dort kein Interesse an einigen jungen, von ihm in den USA entdeckten Jazzern zeigte, machte er prompt seinen eigenen Laden auf: JMT "Jazz Music Today" ging 1985 an den Start und wurde zur aufsehenerregenden ersten Plattform für junge Wilde wie Herb Robertson, Cassandra Wilson oder Steve Coleman. Inmitten der Feierlichkeiten zum Zehnjährigen drehte ihm dann 1995 sein neu fusionierter amerikanisch-japanischer Vertrieb den Saft ab.

Branchenübliche Knebelverträge gibt es hier nicht

Für Winter verblüffenderweise kein Problem: "Ich hatte alle Ideen für Winter & Winter mehr oder weniger bereits in der Schublade," erinnert er sich. Damit ging es nun endgültig in Richtung "Gesamtkunstwerk", mit den entsprechend grenz- und stilüberschreitenden Künstlern. Ob die Schlagzeuger Jim Black und Paul Motian, die Gitarristen Fred Frith und Noel Akchote, der Sänger Theo Bleckmann, die Pianisten Uri Caine und Fumio Yasuda, der Cellist Ernst Reijseger oder der Komponist Mauricio Kagel, um nur einige zu nennen, freie Geister sind sie allesamt, die bei Stefan Winter ihre Freiheit behalten: Branchenübliche Knebelverträge gibt es bei ihm nicht. Und um den gesamten Entstehungsprozess gemeinsam in der Hand zu behalten, gab es stets nur zwölf (abonnierbare) Veröffentlichungen pro Jahr.

Die sind im Jubiläumsjahr also mit "My Choice" überschrieben. Die wichtigsten Winter & Winter-Künstler stellen darauf vor, was sie für ihre Schlüsselwerke halten. Der einzigartige Akkordeonist Guy Klucevsek eröffnete die zwölfteilige Reihe, gefolgt vom Tango-Wiedererwecker Andrés Linetzky und dem Pariser Gitarren-Experimentator Noël Akchoté. Die wohl prominentesten und langgedientesten Label-Vertreter sind zuletzt erschienen: Uri Caine, der große Grenzüberschreiter am Klavier, der die eigentlich unmögliche Aufgabe, sich zusammenzufassen, sehr überraschend gelöst hat; Schlagzeuger Jim Black mit einer Konzentration auf seine Kompositionen; und Sänger Theo Bleckmann mit einer bemerkenswert breit aufgestellten Auswahl seiner Interpretationen von Kate Bush bis Kurt Schwitters. Soeben kam der außergewöhnliche Barock-Musiker und Organist Laurenzo Ghielmi dazu, beschließen werden die Reihe im März und April der Jazz-Cellist Hank Roberts und das italienische Kammerorchester La Gaia Scienza von Paolo Beschi. Typisch für Stefan Winter, dass er das Ganze digital unterfüttert: Zu jedem Album gibt es ein Video, in dem er selbst Künstler und Werk vorstellt. Eine Podcast-Serie, die selbst ein kleines Gesamtkunstwerk ist.

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