Die erste Erschütterung kommt weit vor München, präziser gesagt: bei der Abfahrt in Stuttgart. Dort bricht am Hauptbahnhof eine dreiköpfige Fahrgemeinschaft gen Osten auf, die sich in einer gewagten Kombination aus Bayerntrikot plus Trachtenmode zeigt. Und andersherum? Eine Gruppe Wasenfans am Münchner Bahnhof im VfB-Trikot? Im Leben nicht. Stuttgart gleicht einer Baustelle: Am Bahnhof buddelt man in die Tiefe, gräbt aber römische Öfen aus, zwei Shopping-Ungetüme eröffnen in der City, der VfB säuft ab, überall Schlamassel. Die Gesamtgemütlichkeit: nahe bei null Promille.
Wenn ein Schwabe nach München fährt, dann um zu verlieren. Es steckt tief in ihm drin, dieses Nummer-zwei-sein im Süden, dieser gebückte Gang. Und er bekommt es im ICE sofort wieder schwarz auf weiß serviert: In der Zeitschrift der Bahn findet sich eine Geschichte über Volksfeste. An Position eins wird die Wiesn als "legendär" geadelt, es folgt der Cannstatter Wasen, über den das Blatt allerdings schreibt: "Nachts erinnern die vielen bonbonbunten Lichter der Fahrgeschäfte fast an das Glitzern von Las Vegas." Schau an, das hat man selbst noch nie so gesehen - der Wasen als funkelnde Sin City. Manchmal hilft der Blick aus der Distanz, um die wahre Schönheit zu erkennen.
Rasante Verwandlung in Oktoberfestbayern
Deshalb die Dienstfahrt nach München. Heidenrespekt vor der Wiesn, weil keine Ahnung, quasi schimmerlos. Aber mit der Erwartung im Gepäck, dass Las Vegas im Vergleich zum Oktoberfest ein Mückenschiss ist. Zweieinhalb Stunden später spuckt einen der ICE in München wieder aus. Wer willens ist, kann sich am Bahnhof in Minutenschnelle in einen Oktoberfestbayern verwandeln, den man nur mit geübtem Auge vom Original unterscheiden kann. Das wollen erstaunlich viele.
In der Schalterhalle bildet sich rund um zwei Holzbuden ein Belagerungsring aus jüngeren Leuten. Auf der Rückwand der Buden steht "Original bavarian stuff", das nehmen die Rucksackreisenden aus Australien wörtlich. Zwischen Bretterbude und Fahrkartenautomat ziehen sie sich um, schon hat sich der "Aussie" im Trachtendiscounter für 39,95 Euro in einen Bayern verwandelt. Er grinst zufrieden: "My first time in Lederhosn!"
Noch vor der ersten Mass beschleicht einen das Gefühl, eine Parallelwelt zu betreten. Entrückt geht es weiter, das Hotel liegt malerisch an einer Ausfallstraße, hat offiziell drei Sterne, vom Komfort her eher zwei, vom Preis her eher fünf. Ja mei, die Wiesn, sagt der Münchner Kollege, und klar, wer als Besucher geizt, der offenbart sich in der Weltstadt mit Herz als absolutes Landei. Als Schwabenschotte, als Witzfigur. Die Wiesn ist ein Ort der barocken Freude und des geöffneten Portemonnaies. Also, auf geht's!
Statistik:Die Wiesn in Zahlen
Wie viele Besucher hat die Wiesn ? Und wie viel Bier wird hier getrunken? Die Statistik zum Münchner Volksfest.
Startschuss auf der Wirtsbudenstraße. Wer diese Gasse einmal auf und ab marschiert und in jedem Zelt eine Mass trinkt, verlässt das Oktoberfest mit den Füßen voraus. Beidseitig der schnurgeraden Straße gibt es 14 Festzelte und damit genau so viele Möglichkeiten zum Einkehrschwung. Nur wo hinein? Zur Fischer Vroni? Oder ins Armbrustschützenzelt oder doch in die Augustiner-Festhalle?
Erste Klischeeblase: geplatzt
Erster Einblick: in die Ochsenbraterei, wo sich vor der Ochsensemmel-Ausgabestelle schon eine Schlange bildet. Gerade schweigt die Kapelle, und an den Tischen herrscht eine redselige Geselligkeit, die noch keine Anzeichen von Enthemmung zeigt. Außerdem bietet sich hier eine Gelegenheit zur kostenlosen Nachhilfe in Trachtenkunde: Rund um die Biertische hängen bemalte Holzfiguren im historischen Gewand, und so sieht man, wie eine Chiemseerin ausschaut, ein Altmünchner oder eine Dachauerin. Das Publikum ist bunt zusammengewürfelt, wobei viele Leute in Zivil gekommen sind. Jeans, T-Shirt, Pulli - die Wiesn ist frei von Trachtenzwang. Eine Klischeeblase zerplatzt.
Weiter geht's. Pflichtbesuch im Hofbräuzelt, schon um zu überprüfen, ob sich an der Harfe des Engel Aloisius, der hier an der Decke schwebt, wirklich so viel Unterwäsche ansammelt. Stimmt tatsächlich, manchmal muss es beim Ausziehen rasch gehen, ob beim Trachten-Aldi oder in anderen Momenten. Im Hofbräuzelt brodelt es übrigens am Spätnachmittag schon, und es bedarf der Gelassenheit eines Wiesn-Veterans, um jetzt noch in voller Tracht durch die engen Gänge zu spazieren, wobei der Herr seine Nordic Walking-Stöcke im Takt der Musik auf den Holzboden donnert. Unweigerlich beschleicht einen der Gedanke an eine Kuh, die stoisch beim Almabtrieb ihren Weg findet und stur geradeaus schaut.
Aber das ist eine krude Fantasie. Raus aus dem Zelt, in dem der FC Betrunken München ein Prosit der Gemütlichkeit röhrt und zu einem der zahllosen Imbisse. Wer sich Mühe gibt, findet hier bestimmt auch einen Tofuburger, aber beim Oktoberfest gibt es keinen Veggie Day. Die Fleischeslust ist enorm: Wurstbraterei, Ochsenbraterei, Kalbsbraterei, Entenbraterei. Als Tier empfiehlt es sich - wenn möglich - einen Bogen um das Fest zu machen.
Das Essen entschleunigt den Rausch, das verträgt sich gut mit einem Bummel über die "Oide Wiesn". Im nostalgischen Eck des Rummels finden sich hochbetagte Konzertorgeln, Autoscooter aus der Wirtschaftswunderzeit und ein Stand des "Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte e.V". Der Verein unterzieht die Besucher an Ort und Stelle einem Multiple Choice-Test auf Bairisch. Was um Himmels Willen ist der/die/das "Banzn"? Durchgefallen, war ja klar, aber die Dame vom Förderverein zwinkert trotzdem nett und reicht einen Aufkleber. Stuttgart ist stolz auf Hegels Dialektik, aber nicht auf den schwäbischen Dialekt.
Jetzt auf die Zielgerade einbiegen. Promiauflauf im Weinzelt. Es ist natürlich ein Witz, den Abend auf dem größten Bierfest der Welt ausgerechnet im Weinzelt zu verbringen, aber Schwamm drüber! Sonst wäre einem entgangen, wie Patrick Lindner im Blitzlichtgewitter kokett mit den Fotografen schäkert: "Bin ich scharf?" Plötzlich tauchen bei der Party eines Volksmusiksenders Kindheitsfiguren auf, wie der Sänger Günther Sigl von der Spider Murphy Gang und Leslie Mandoki von Dschingis Khan, und dann blitzt es so gewaltig am Treppenaufgang, dass jetzt bestimmt Boris Becker kommt oder der fleischgewordene Engel Aloisius in Damenunterwäsche. Am Ende ist es aber nur Caroline Reiber.
Promis auf dem Oktoberfest:Löwenfütterung im Bierzelt
Für ihren gemeinsamen Wiesn-Besuch haben sich die Löwen-Spieler mit Einheitstracht, Lebkuchenherzchen und breitem Grinsen ausgestattet. Nur einer muss noch an seiner Begeisterungsfähigkeit arbeiten.
Modellierte Brüste für jedes Dirndl
Egal, es herrscht ein dauerndes Riesenhallo, selbst wenn nur die Dings aus "Marienhof" und der Bums aus "Verbotene Liebe" auftauchen. Das hat schon beinahe etwas von Magischem Realismus, zumindest muss die Welt einen Sprung in der Schüssel haben. Die Diagnose erhärtet sich, rein medizinisch gesehen, weil gerade der Schönheitschirurg Werner Mang einem Reporter darüber Auskunft gibt, dass sich keine Dame in ein Dirndl zu quetschen brauchte, wenn sie sich vorher bei ihm die Brust modellieren ließe. Eine steile These, aber es kommt noch besser, weil der Reporter Herrn Mang bittet, seinen Lieblings-Wiesn-Hit vor laufender Kamera vorzutragen und der Chirurg plötzlich "Atemlos" von Helene Fischer singt.
Statistik:Der Wasen in Zahlen
Wie viele Besucher hat der Wasen? Und wie viel Bier wird hier getrunken? Die Statistik zum Stuttgarter Volksfest.
Zugleich brüllt es aus einer anderen Ecke, in der sich wie aus dem Nichts Jürgen Drews und Otfried Fischer materialisiert haben, lautstark: "Bussiii!" Das ist schon verdammt viel auf einmal für einen Wiesn-Novizen, der weiß, dass es auf dem Wasen niemals ein Wimmelbild aus Promis geben wird. Manche haben den Abend übrigens trotz Einladung geschwänzt oder waren anderweitig verhindert, aber dafür stehen sie zumindest auf der Speisekarte: "6 original Nürnberger Rostbratwürstl von Uli Hoeneß".
Zur späten Stunde sinken die abfotografierten Promi-Gesichter erschöpft auf ihre Sitzbänke, in der wohligen Gewissheit, sich demnächst in einer Sendung anschauen zu können. Die Wiesn ist ihnen gnädig gewesen in dieser Nacht, aber auf dieser liberalen Spielwiese kann theoretisch jeder sein Glück finden. Ob er auf der Gästeliste steht oder Otto Normalbiertrinker ist, ob er seine Tracht bei Lodenfrey mit der Platincard bezahlt hat oder am "Dirndl Complete Sale" teilgenommen hat. Für den Tagesgast bleibt letztendlich die Kapitulation. An einem einzigen Tag kannst du das Universum Wiesn unmöglich verstehen. Aber zum Nachsitzen würde man nächstes Jahr gerne wieder kommen. Aus Las Vegas am Neckar.
Erik Raidt, Redakteur der Stuttgarter Zeitung , ist in Cannstatt aufgewachsen und hat mit fünf Jahren erstmals am Ponyreiten auf dem Wasen teilgenommen.
Lesen Sie hier, was ein Wiesn-Reporter auf dem Canstatter Wasen erlebt hat.