"Hat das Kasperltheater eine Fortsetzung?", will der Prälat von Pfarrer Rainer Maria Schießler wissen, als der rebellische "Medienpfarrer" von St. Maximilian 2006 erstmals seinen Dienst als Wiesnbedienung antritt. Keine Beleidigung für Schießler, der insgesamt zehn Jahre auf dem Oktoberfest kellnern wird und am Dienstagnachmittag sein neues Buch "Wiesnglück - eine Liebeserklärung" vorstellt, das am 9. September im Bene-Verlag erscheint. Was gäbe es Schöneres, als beim Kasperltheater in staunende, weit geöffnete Kinderaugen zu blicken, kontert Schießler.
Kinderaugen sind es nicht mehr, in die Schießler bei dieser Buchpräsentation blickt, aber staunend sind die knapp 200 Augenpaare allemal. Im vollen Bavaria-Saal im Paulaner am Nockherberg schlüpft Schießler in die Rolle des Geschichtenerzählers, des Moderators, des Stand-up-Comedian. Gastbeiträge auf der Bühne und im Buch kommen von den Wiesnwirten Christian und Michael F. Schottenhamel, in deren Zelt Schießler anheuerte, sowie von ehemaligen Servicekollegen und -kolleginnen. Wäre es ein Kasperltheater, hätte Schießler die Figuren bereits getauft, als er die "wilde Hilde" und den "Anstichschorsch" zu sich auf die Bühne holt.
Während seiner Liebeserklärung an das Oktoberfest betont Schießler immer wieder die Menschlichkeit und Kollegialität, die er dort erfahren habe. Auch die Ex-Kollegen auf der Bühne bekunden herzliche Wertschätzung, der Seelsorger habe stets den Zusammenhalt in der Belegschaft gefördert, berichtet Christian Schottenhamel. Der Spaß an der Arbeit stehe für Schießler an erster Stelle, an zweiter nicht das Aufstocken der eigenen Kasse: "Mir geht's in dieser Kirche zu gut, ich brauche ein übergeordnetes Ziel." So spendete Schießler die Entlohnung aus seinen Kellnerjahren für eine gute Sache.
Ist der medienaffine Geistliche die beste Wahl als Spendenhelfer?
Das übergeordnete Ziel für den Erlös seines neuen Buches sei der "Helferkreis Anton" in Moosinning, eine lokale Initiative zur Unterstützung einer Privatfamilie. Auch die Vertreter dieses Helferkreises samt Moosinnings Bürgermeister Georg Nagler bittet Schießler zu sich auf die Bühne. Nagler verrät, man habe intern diskutiert, ob der medienaffine Geistliche als Spendenhelfer die beste Wahl sei; letztlich sei die Entscheidung der Familie überlassen worden.
Im Buch hat Schießler auch nachdenkliche Stellen eingebaut, spannt oftmals einen romantisierenden Bogen von Bibelstelle zu erlebter Wiesnsituation, reichlich gespickt mit emphatischen Ausrufezeichen. Zum Schreiben hat er sich ein paar Tage in ein Ressort im Ötztal zurückgezogen. Mehr als ein Zimmer, WLAN und eine Kaffeemaschine brauchte er nicht, die Geschichten seien einfach geflossen. Assoziativ, chronologisch und mit der universellen Metapher einer aufschäumenden und letztlich brechenden Welle geht er seine Geschichte mit dem Oktoberfest an, von der Kindheit, über die Schul- und Studienzeit bis zu seinem letzten Kellnerjahr 2018.
Ob an ihm ein Kellner verloren gegangen sei, sinniert er
An Selbstsicherheit fehlt es ihm dabei nicht, am unterhaltsamsten aber ist er bei den bodenständigen Anekdoten, die sich über zehn Jahre Festbetrieb ansammelten. Als er beispielsweise während des Studiums als Taxifahrer Wiesnbesucher nach Hause fuhr. Oder als ihn ein Gast um eine benutzte Gabel bat, um sich die vom Feiern gelöste Frisur in Form zu fetten. Oder dass ihn seine Namensklammern als "Berufssingle" und "Christlicher Bierexpress" auswiesen, seine Kollegen ihn trotzdem "Hochwürden" nannten.
Nach der Präsentation am Signiertisch angekommen überlegt Schießler, ob an ihm ein Kellner verloren gegangen sei. Und befindet: "Bevor man unfreundlich wird, muss man aufhören, weil das hat der Gast nicht verdient. Ich bin ein Studierter und irgendwann muss man wissen, was man hauptberuflich macht." Außerdem sei für ihn immer das Austeilen das Größte gewesen und das mache er als Pfarrer genauso. Als Kellner wird Rainer Schießler also dieses Jahr nicht auf die Wiesn zurückkehren, aber er will seinen ehemaligen Kollegen beim Austeilen zuschauen.