Föhn über München:Der Puls der Stadt

Föhn über München: Eine gewaltige Bergkette am Rande der Stadt präsentiert sich bei einem Blick vom Olympiaberg im Münchner Norden, wenn Föhn herrscht.

Eine gewaltige Bergkette am Rande der Stadt präsentiert sich bei einem Blick vom Olympiaberg im Münchner Norden, wenn Föhn herrscht.

(Foto: Robert Haas)

Alles, was in München passiert, geschieht im Zeichen des Föhns - auch wenn gar keiner herrscht. Denn er ist kein meteorologisches Phänomen.

Von Wolfgang Görl

Wer über den Föhn nachdenkt, muss, ebenso wie beispielsweise beim Nachdenken über die Weißwurst, äußerst sorgfältig differenzieren. Um mit Letzterer zu beginnen: Wie komplex alltägliche Dinge wie die Weißwurst oft sind, zeigt schon eine erste gedankliche Annäherung: Sie ist ja nicht nur ein im Grunde gewöhnliches Produkt aus Metzgers Wurstkessel, nein, darüber hinaus verkörpert sie einen Mythos, der maßgeblich zur Münchner Identität beiträgt. Ohne die Weißwurst wäre München nicht München, dann wäre die Stadt vielleicht Regensburg oder Landshut. Und wie wichtig der Münchner seine Identitätswurst nimmt, sieht man am immerwährenden Streit über die Frage, ob Auszuzeln die einzig zulässige Verzehrtechnik ist.

Ähnlich verzwickt ist es mit dem Föhn: Meteorologisch ist er ein warmer, mitunter heftiger Fallwind, der von Gebirgen herunterweht und in Gegenden, wo es noch Schnee gibt, diesen innerhalb weniger Stunden in Wasser verwandelt. Angesichts von Wirbelstürmen, die ganze Küstenstreifen verwüsten, hauen einen die Leistungen des Föhns nicht gerade von den Socken. Macht aber nichts, es muss auch zweitklassige Stürme geben.

Eine ausschließlich Münchner Angelegenheit

Weitaus bedeutsamer aber ist der Föhn als kulturelles Phänomen. Als solches ist er ausschließlich eine Münchner Angelegenheit, jeder Einheimische würde mit guten Gründen bestreiten, dass es außerhalb Münchens überhaupt einen Föhn gibt, der den Namen verdient. Der Münchner Föhn ist etwas Einzigartiges, er ist gleichsam der Puls der Stadt, also das, was etwa in Hamburg der Hafen, in New Orleans der Jazz oder in Liechtenstein das Schwarzgeld ist. Man darf sogar sagen: Alles, was in München geschieht, geschieht im Zeichen des Föhns. Der kluge Schriftsteller Herbert Rosendorfer hat einmal geschrieben, der Münchner könne auf den "hassgeliebten Föhn" nicht verzichten. Und er fährt, über den Münchner reflektierend, fort: "Der Föhn ist gewissermaßen der Stachel, an dem er, wenn er ihn spürt, merkt, dass er lebt."

Aber wann spürt der Münchner den Föhn? Nun, die Erfahrung lehrt, dass die Wirkung des Föhns nur wenig, womöglich sogar überhaupt nichts mit der Wetterlage zu tun hat. Wie sonst wäre zu erklären, dass etwa Tennisspieler, die auf Münchner Terrain eine Partie verloren haben, ihre Niederlage stets mit dem herrschenden Föhn begründen, wohingegen die Sieger nicht einen Hauch von südlichen Fallwinden bemerkt haben? Schon Rosendorfer hat festgestellt, dass der Föhn auch dann auftreten kann, wenn absolute Windstille herrscht. Aus all dem lässt sich schließen: Der Münchner Föhn ist kein meteorologisches Phänomen, sondern eine nur hier auftretende seelische Aufwallung, die sich gleichermaßen auf Körper und Geist auswirkt.

Der Föhn entfaltet seine Wirkung erst im Nachhinein

Wie verheerend die Folgen sind, kann man in der von Elisabeth Tworek herausgegebenen Textsammlung "Literarische Wetterlagen" nachlesen, wo im Kapitel Föhn diverse Schriftsteller zu Wort kommen, darunter der Münchner Ernst Hoferichter: "Der Leib wird zum biologischen Niemandsland und gibt den Weg frei für Schwindelgefühle, vibrierende Pulse, verkrampfte Muskeln und zuckende Nervenbündel. An den Gehirnkasten wird ein Brett genagelt; Häkelnadeln stechen an die Wände der Herzkammern, und in den Apotheken werden Antiföhntabletten zur Mangelware."

Das hört sich an wie der Beginn einer schlimmen Infektion, doch nur in Ausnahmefällen führen die von Hoferichter erwähnten Symptome zu Bettlägerigkeit oder längerem Aufenthalt im Krankenhaus. Weitaus häufiger entfaltet der Föhn erst in der Retrospektive seine Wirkung, etwa nach missratenen Prüfungen, gescheiterten Flirts oder Reparaturarbeiten im Bad, in deren Verlauf man die ganze Wohnung geflutet hat. Sobald eine Sache gründlich schief gelaufen ist, fällt dem Münchner ein, dass er am Tag des Misslingens ganz fürchterlich unter Schwindelgefühlen, vibrierendem Puls und verkrampften Muskeln gelitten hatte. Kurz gesagt: Es herrschte Föhn, ganz egal, wie die Wetterlage tatsächlich war.

Der Föhn ist an allem schuld

Hier gilt das Wort des großen Kolumnisten Sigi Sommer, demzufolge der Münchner Föhn an allem schuld ist: "Da gibt es sogar vor Gericht vielfach mildernde Umstände, wenn sich irgendein armer Sünder darauf hinausredet, es hätte zur Zeit seiner Missetat so eine böse Bö geweht." Entsprechend läuft die Ursachenforschung nach Fehlschlägen, egal, ob bei verlorenen Fußballspielen oder falschen Stadtratsentscheidungen, in München immer auf den Satz hinaus: "Es war Föhn." Mehr muss man nicht erklären.

Diese seit Menschengedenken bewährte Praxis ist im Übrigen der Grund, dass die Münchner Wirtschaft brummt. Um das zu begreifen, muss man sich zunächst die geistige Befindlichkeit der Stadtbevölkerung vor Augen führen. Über Jahrhunderte hinweg hat die katholische Kirche die Stadt geprägt, was einerseits Pomp und Sinnenlust förderte, andererseits aber auch das Wissen um die Vergänglichkeit allen irdischen Treibens vertiefte. Das Christentum erlebte den Untergang des römischen Imperiums, es musste zusehen, wie das Reich Karls des Großen zerfiel, und für die Münchner Katholiken kam zu allem Unglück noch die Einbürgerung lutherischer Elemente hinzu. Die Erfahrung des Scheiterns wabert bis heute im Unterbewusstsein des Münchners, dazu die jegliche Aktivität lähmende Frage: Wenn's schief geht, wer ist schuld?"

Der Fallwind verleiht dem Münchner Flügel

Früher war der Teufel rasch als Verantwortlicher ausgemacht, was wegen der damit verbundenen Scherereien die Bürger eher hemmte. Doch um das Jahr 1800, am ersten Freitag nach der Säkularisation, proklamierte der Minister Montgelas, dass Missgeschicke in der Regel ein Werk des Föhns seien. Diese Erkenntnis war ein Befreiungsschlag für die Stadtgesellschaft, denn fortan gab es eine allseits anerkannte Ausrede: Der Föhn hat mal wieder zugeschlagen. Wie weggeblasen war die wachstumsschädliche Vanitas-Depression, ein Ruck ging durch die Stadt.

Föhn über München: Föhn über München - und die Alpen scheinen ganz nah.

Föhn über München - und die Alpen scheinen ganz nah.

(Foto: DAH)

Seitdem verleiht der alpenländische Fallwind den Münchnern Flügel: Sie krempeln die Ärmel hoch und packen an, sie spekulieren an der Börse, schneidern tolle Klamotten oder brauen Bier, sie jagen mit 100 Sachen durch die Stadt, gehen fremd oder veranstalten Olympische Spiele, und wenn ihnen danach ist, bauen sie einen Konzertsaal oder extra keinen, ja, sie erwägen sogar das Unmögliche: eine zweite S-Bahnröhre zu buddeln, den TSV 1860 zu retten oder beim Sterne-Koch satt zu werden. Man geht ja kein Risiko ein. Geht's schief, liegt's am Föhn. Er ist der Motor, der die Stadt am Laufen hält.

Föhnfühligkeit ist lernbar

Man muss auch nicht befürchten, dass dieser Motor jemals ins Stocken gerät. Sogar wer der - falschen - Theorie anhängt, der Föhn habe etwas mit dem Wetter zu tun, muss zugeben, dass es zu jeder Zeit und bei jeder Witterung legitim ist, an ihm zu leiden. Sigi Sommer, der den Föhn gern mit einer Mass Bier in die Schranken wies, hat herausgefunden, dass es drei Typen von Föhnopfern gibt: den Vor-, den Haupt- und den Nachföhner. Der Vorföhner, so schreibt Sommer, "leidet, wenn der Föhn noch nicht, der Nachföhner, wenn er nicht mehr da ist, der Hauptföhner dazwischen". Hinzuzufügen wäre, dass die Föhnfühligkeit nur gebürtigen Münchnern im Blut liegt. Auswärtige müssen sie sich erst mühsam erwerben, das Integrationsamt bietet da Kurse an. Erst wenn der Neumünchner hupend und schimpfend über Bürgersteige fährt oder schlecht eingeschenkte Masskrüge barsch zurückgehen lässt, ist er wirklich angekommen in der Stadt.

Es gibt aber noch einen Menschentypus, einen recht sonderbaren, der in der Fachliteratur meist zu kurz kommt: der Föhnliebhaber. Dieser ist berauscht vor Glück, wenn der Südwind durch München weht, wenn über den seidig-blauen Himmel weiß leuchtende Föhnwolken wie Ufos ziehen, wenn am Rande der Stadt plötzlich eine gewaltige Bergkette aus dem Boden wächst und die Luft so warm ist wie an den Stränden der Ägäis. Dann lässt er alles liegen und stehen, dann muss er raus, zum Flaucher, zum Eisbach, zur Yogalehrerin, die Privatstunden gibt, während ihr Mann auf Arbeit ist. An solchen Tagen ist der Föhnliebhaber wie verzaubert: Da versteht er das MVV-Tarifsystem, findet "Dahoam is Dahoam" lustig und kriegt beim Gedanken, Markus Söder wäre Ministerpräsident, keine Gänsehaut. Man sieht, er befindet sich in einem Zustand am Rande der Unzurechnungsfähigkeit. Aber das ist keine Krankheit, das macht der Föhn.

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