Westend:Wo der Alois zu Hause war

Zwei Mütter aus dem Westend haben einen Stadtteilführer für Kinder verfasst. In sehr anschaulichen Anekdoten erzählen sie die Geschichte der fiktiven Familie Oberhuber über 125 Jahre hinweg

Von Andrea Schlaier, Westend

Zuhause, das ist dort, wo die Kinder einst den Pferdekutschwerken der Augustiner-Brauerei hinterher gehüpft sind. Dort, wo sie 1891 in sorgsam geflickten Hosen und geerbten, ausgelatschten Schuhen zusammen mit 70 Gleichaltrigen das erste Mal die Schulbank an der Bergmannstraße gedrückt haben. Zuhause ist dort, wo sie mit 13 Jahren bei der Gummifabrik Metzeler am Gollierplatz um eine Lehrstelle anheuerten und später mit Frau und Kind in eines der ersten Genossenschaftshäuser an der Tulbeckstraße gezogen sind. Zuhause ist dort, wo sich ihre Kinder in der St.-Rupert-Kirche später das Ja-Wort geben sollten und dort, wo ihre Enkelin in den 1960er Jahren im Multikulturellen Zentrum den Mann fürs Leben gefunden hat: einen jungen Griechen.

"Mein Zuhause. Das Münchner Westend". Das ist der Titel eines ebenso bemerkenswerten wie kunstvollen geschichten- und geschichtsträchtigen Stadtteil-Führers, den zwei Mütter des Viertels konzipiert und komponiert haben - für Kinder. Nicht nur für ihre eigenen. In tiefem Blau liegt das Kompendium vor Katja Hauß und Anne Schmidt auf dem Tisch, wie ein DIN A 5-kleines Schulheft. Das Cover ziert eine Art koloriertes Negativ-Foto der stattlichen Bavaria, gerahmt von der Ruhmeshalle. "Es ist eins der wenigen Restexemplare, die noch übrig sind von der Rallye zum 125-jährigen Bestehen der Grundschule an der Bergmannstraße", erzählt Hauß.

Westend: Die Autorin Katja Hauß (links) und die Grafikerin Anne Schmidt (rechts) mit ihrem Stadtteilführer für Kinder.

Die Autorin Katja Hauß (links) und die Grafikerin Anne Schmidt (rechts) mit ihrem Stadtteilführer für Kinder.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Zum Jubiläum hatten die beiden Frauen im vergangenen Jahr eine Stadtteil-Tour für die Grundschüler verfasst. Der Clou: Anhand der fiktiven, spannenden aufgeschriebenen Lebensgeschichte des Alois Oberhuber, Sohn eines Stallknechts der Augustiner-Brauerei, werden wichtige Stationen in der Genese des Westends angesteuert. "Alles, was er, sein Sohn und seine Enkelin erleben", sagt Katja Hauß, "hätte tatsächlich so passieren können".

Jedem Stopp des Rundgangs ist eine Doppelseite gewidmet. Abgebildet ist in der Optik einer fotorealistischen Schwarz-Weiß-Zeichnung ein relevantes Gebäude. Was sich darin oder drumherum einmal abgespielt hat, wird in szenischen Dialogen erzählt. In kleinen Info-Blöcken gibt's außerdem Hinweise zu Straßennamen und Entstehungsgeschichten. Und zwar solche, die auch für Kinder relevant sind. Wie etwa die des Eiscafés Florenz, das es schon seit 1949 im Westend gibt, zunächst in einer Holzbaracke an der Trappentreustraße, heute in der Tulbeckstraße. Anne Schmidt, 45, verweist darauf, dass als spielerisches Element interaktive Sequenzen eingebaut sind: Bei der Station "Multikulturelles Zentrum" könnten die Kinder etwa die Nationalitäten ihrer Freunde als Fahnen hineinmalen. Auf diese Weise werde aus dem Heftchen ein "persönliches Werk".

So viel Mühe für den Geburtstag einer Schule? Nicht ganz. Der Rohstoff für Rundgang und Broschüre lag zu der Zeit bereits in Katja Hauß' Schublade. "Ich hatte mal zum Kindergeburtstag meiner Tochter so was gemacht." Eingeladen gewesen seien ausschließlich Freunde aus dem Westend. "Damit die Kinder ein Gefühl kriegen, wo sie wohnen, haben wir die Häuser, in denen sie leben oder deren unmittelbarer Nachbarschaft als Anlaufpunkt genommen und deren Geschichte aufbereitet." Dazu hat die 42-jährige Journalistin, die als Pressesprecherin für ein Unternehmen arbeitet, kleine Szenen über das Leben an diesen Adressen geschrieben, die die Kinder teilweise selbst vortragen konnten. Und wie das manchmal so ist: Anne Schmidts Tochter gehörte zu den Gästen, und Kind wie Eltern waren begeistert von der Idee. Schmidt hatte schließlich angeregt, nach dem Prinzip eine Rallye für den Schulgeburtstag zu konzipieren.

Westend: Die Geschichte des Westends erzählt man am besten anhand von Menschen, die dort lebten oder gelebt haben könnten.

Die Geschichte des Westends erzählt man am besten anhand von Menschen, die dort lebten oder gelebt haben könnten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

"Ich kam dann auf die Idee", erzählt Hauß, "eine Geschichte zu erfinden von einem Kind, das im ersten Jahrgang der neu gegründeten Bergmannschule eingeschult wurde und dessen Familiengeschichte sich über Generationen hinzieht und bis in die Gegenwart reicht". Eben jenen Alois Oberhuber. Als diplomierte Designerin übernahm Anne Schmidt den Part der künstlerischen Gestaltung. An freien Abenden und Wochenenden feilten die beiden unter Zuhilfenahme historischer Nachschlagewerke an der Umsetzung.

Das Feedback war überwältigend. Mitbekommen haben das auch die Organisatoren der offenen Ateliertage von "Open Westend" und gefragt, ob die beiden Mütter das Projekt nicht im Frühjahr 2017 in Schmidts Büro ausstellen wollen. Wollten sie. "Ich hab angefangen, die ganzen Bilder zu kolorieren, wir haben noch ein paar Stationen dazugenommen und vor allem auch ein Buch ausgelegt mit der Frage, ob die Leute noch Erinnerungen übers Westend mit uns teilen wollen." Und sie sammeln noch weiter unter kontakt@westendrallye.de. Die Designerin lächelt. "Es war viel Interesse da. Die Mütter haben auf diese Weise erfahren, dass es in der Gollierstraße einmal eine Wurstfabrik gab und die Flure in den Wohnungen im Hauptzollamt so groß waren, dass die Kinder dort Radfahren konnten. Überhaupt haben sie so großen Gefallen an dem Projekt gefunden, dass sie es zum einen für den letzten Kindergeburtstag auf den Nymphenburger Schlosspark ausweiteten. Zum andern suchen sie nach Möglichkeiten und Unterstützern, die Idee auf breitere Füße zu stellen. Hauß gibt sich überzeugt: "Kinder können sich Geschichte besser merken, wenn sie dazu Geschichten hören." Anne Schmidt geht noch einen Schritt weiter: "Es ist ein Projekt, das Leute an ihren eigenen Wohnort heranführt. Wenn man damit nicht bei Kindern anfängt, ist es oft auch verloren."

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