Weltmeister in der Bayernliga:"Ayayadabidi!"

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Mit 50 Jahren stemmt Manfred Nerlinger beim TSV Forstenried Gewichte.

Florian Haas

Der letzte Auftritt gehört ihm. 136 Kilo lasten in schweren Scheiben verpackt auf der silbernen Hantelstange, die nun fast so viel wiegt wie er selbst. Er greift in ein Gefäß. Reibt Magnesium in die Hände. Tritt vom grauen Teppich auf die schwarze Hebematte, unter die defekte Deckenlampe. Links steht eine Sprossenwand. Rechts hängt ein Bild von ihm, von früher. Fahnen schmücken den etwa 50 Quadratmeter großen Kellerraum. "Kraftsport in Forstenried" steht auf einer. Knapp 30 Zuschauer sitzen auf Wirtshausstühlen. Es ist warm, Schweißgeruch vermengt sich mit dem Duft von Leberkäs. "Gas geben, Manni", ruft ein älterer Herr im Karohemd. Das Reißen war nicht optimal. Jetzt also Stoßen, darin war Manfred Nerlinger Weltmeister. Zwei Mal sogar. Heute ist er 50.

"So etwas gibt es sonst nicht in dieser Liga": Manfred Nerlinger, früher Aushängeschild, heute Ausnahmeerscheinung der Heberszene. (Foto: Georgine Treybal)

"136 Kilo für Manfred", verkündet ein Mann per Mikrofon. Es wird still. Nerlinger trägt Bandagen um die Knie, einen Gürtel um die Hüfte und ein enges schwarzes Hemd über dem Oberkörper. Er schließt die Augen und saugt Luft ein, wie ein Staubsauger, laut und gründlich. Dann senkt er den Oberkörper, umgreift die Hantel, hält kurz inne, geht in die Knie, kommt wieder hoch. Mit 136 Kilo unter dem Kinn, gehalten von schrankartigen Schultern und Schaufelbaggerarmen. Sein Kopf ist rot, das Blau seiner Augen erkennbar, trotz kaputter Lampe. Er atmet aus. Ein Ausfallschritt, ein Schnaufen, ein Schrei: "Ayayadabidi!" Er bringt die Stange über den Mund, den Kopf, höher, alles geschieht fast gleichzeitig, alles sieht gut aus, geschmeidig, technisch sauber. Dann kracht die Hantel zu Boden. Es hat nicht gereicht. Ein Beamer wirft das Ergebnis an die Wand: Nerlinger, Manfred. KG 134,5. Reißen: 105. Stoßen: 131. Macht zusammen 236 Kilo. Das ist viel. Aber nicht für ihn. Früher schaffte er allein beim Stoßen mehr.

Die Leute klatschen. Dann kommt Musik, "I can't get no sleep", ein Techno-Lied. Der Mann mit dem Mikro liest: "Eichenau 364 relative Punkte, Forstenried 228 Punkte." Die Teamsprecher danken Helfern und Fans und laden ins Wirtshaus. Es war ein interessanter Wettkampf. Interessant, weil Gewichtheben alle Sportlertypen vereint, große und kleine, massige und schlanke, alte und junge; weil es anspruchsvoll ist und spannend, meistens jedenfalls. Heute war der Tabellenführer Eichenauer SV klar besser im vorletzten Akt dieser Bayernliga-Saison. Forstenried hat dennoch zum ersten Mal in der Klubhistorie den Klassenerhalt in der Bayernliga geschafft. "Zu 99 Prozent", sagt Robert Vogl, der Abteilungschef. Irgendwas kann immer passieren. Aber es sind wohl hundert Prozent.

Bis zu fünf Mal die Woche üben die TSV-Gewichtheber, in der Kartei stehen 80 Mitglieder, aktiv sind zehn. Es gibt kaum Nachwuchs, aber in Nerlinger ein berühmtes Mitglied. Der Münchner hat drei Medaillen bei Olympischen Spielen geholt, 1984 und 1992 Bronze, 1988 Silber, außerdem 15 bei Weltmeisterschaften; er war Weltrekordler, fast 20 Jahre lang Aushängeschild des Sports und des Vereins. Und heute Bayernliga? Kein Eintritt, kaum Zuschauer, Filterkaffee aus Pappbechern? "Es macht ihm Spaß, er engagiert sich", sagt Vogl. "Außerdem hört man mit seinem Sport nicht einfach auf." Für sie sei sein Mitwirken normal, sie sehen ihn ja ständig. Aber klar, für die Gegner ist Nerlinger ein Ereignis: "So etwas gibt es sonst nicht in dieser Liga."

Das Ereignis steht jetzt im Flur. Nerlinger hält in der linken Hand eine Bierflasche, irgendwer reicht ihm eine Semmel in die rechte, magnesiumweiße Hand. Erste Erkenntnis: Er sieht jünger aus als 50, schlanker, eigentlich besser als auf den Bildern von früher. Vor rund 35 Jahren begann er seine Karriere beim TSV Forstenried, ehe er ins Bundesligateam des ESV Neuaubing wechselte.

Nerlinger ist unzufrieden. 136 Kilo, das wäre Saisonbestleistung gewesen. "Ich war nicht in Form. Wir alle hatten im Hinterkopf, dass wir keine Chance haben", sagt er. Zweite Erkenntnis: Er ist noch immer ehrgeizig. Und ehrlich. Nach seinem Abschied vom Profitum vor zehn Jahren hätte er nicht aufhören sollen mit dem Sport, aber zu seiner Zeit als Bundes-Nachwuchstrainer von 2000 bis 2007 fehlte ihm "nach einem Tag in der Halle die Lust auf Training". Natürlich zwicke es in den Knien, im Rücken. Hinter ihm liegen "vier, fünf Knie-OPs" und eine Hüft-Operation. Nerlinger ist von der Bundeswehr frühpensioniert.

Die Zeit beim Bundesverband Deutscher Gewichtheber endete "mit Differenzen", wie er sagt. 2008 erlitt er einen Schlaganfall. Danach begann er wieder mit "leichtem Langhanteltraining". Beim Blick auf die bemitleidenswerte Bierflasche in seiner Hand lässt sich erahnen, wie leichtes Langhanteltraining bei Nerlinger aussieht. Er formte ein Team, inspirierte andere. Im Klub war man begeistert: ein Diplomsportlehrer mit 37 deutschen Rekorden. "Dahinter steckte kein Leistungsgedanke", sagt er. "Ich wollte wieder ein bisschen was tun." In der Bezirksliga-Saison 2009/2010 glückte der Aufstieg, nun der Ligaverbleib. Nerlinger übt zwei Mal die Woche, gibt Tipps, motiviert.

Sonst? Fährt er gerne Motorrad und hilft seiner Frau in ihrer Firma für Gewichtheberzubehör. Den Sport mache er nur noch aus Spaß, sagt er, bis Stärkere kämen. Nur: Es kommen keine, nicht in der Bayernliga, fast nirgendwo. "Das Niveau ist gesunken", sagt Nerlinger. Viele Trainer seien überaltert. Es gebe wenig Talente, Jugendliche wollten sich nicht quälen. Er verstehe das zum Teil, der Stress in Schule und Beruf sei größer als damals. Um ihn herum räumt sein Bruder auf. Wäre Georg Nerlinger nicht verletzt, würde auch er heben, wie Marina, die Frau von Manfred Nerlinger, dem der letzte Auftritt gebührt. Er schüttelt Hände, scherzt, verabredet sich zur Sauna. Das Resultat ist kein Thema. War es das je? Wohl nicht. Nerlinger muss duschen. Oben warten sie auf ihn.

© SZ vom 03.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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