500 000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich neu an Krebs. 7500 Menschen sind es allein in München. Und die Zahl der Erkrankungen, darin sind sich die Mediziner einig, wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Das Motto des Weltkrebstages am 4. Februar lautet "Versorgungslücken schließen". Das Patientenhaus, das im April 2022 in München eröffnet worden ist, schließt schon jetzt eine Lücke - indem das Team den Patienten Zeit schenkt und individuelle Hilfe anbietet.
Angelika Amann hat ihn einfach mitgebracht. Einen silbrig glitzernden Zauberstab mit Stern auf der Spitze. Von einer Patientin habe sie ihn bekommen. Als Dank für die große Hilfe. Die 44-Jährige von der Krebsberatungsstelle des Tumorzentrums am Comprehensive Cancer Center (CCC) des LMU-Klinikums arbeitet im Patientenhaus, das zwei Worte in den Fokus rückt: Zeit und Hilfe. Wenn die Diagnose einen überfordert, man nicht mehr weiß, wie es weitergeht. Wenn Unsicherheit und Angst lähmen, Formulare und Anträge überfordern oder Appetitlosigkeit während einer Chemotherapie den sozialen Rückzug einläutet.
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"Ich sage immer: Erzählen Sie, und dann schauen wir weiter, was wir tun können", sagt Amann. In den Augen einer ihrer Patientinnen aber ist das unendlich viel. "Es gibt nichts, bei dem sie im Patientenhaus nicht helfen könnten", sagt sie und beginnt, sofort zu erzählen. Ohne dass sie ihren Namen nennen mag. Ganz offen, sehr ruhig. Ihre Stimme klingt kraftvoll, obwohl sie gerade erkältet ist. Gar nicht gut. Denn sie bräuchte eigentlich ihren letzten Chemotherapie-Zyklus. "Das geht nun leider gerade nicht."
13 Beraterinnen und Berater stehen im Patientenhaus mit Rat und Tat zur Seite
Die 46-Jährige ist an einem "multiplen Myelom" erkrankt, an Knochenmarkkrebs. Ende März 2022 bekommt sie die Diagnose, nur wenig später die erste Chemotherapie. Die verträgt sie sehr gut. Dann wird sie auf eine Stammzellentransplantation vorbereitet. Auch da läuft es besser, als sie selbst angenommen hat. Die zweite Chemotherapie allerdings kostet sie Kraft, sie fühlt sich "hundeelend". Und sie sucht Hilfe. Ihr Onkologe drückt ihr einen Flyer vom CCC und vom Patientenhaus in die Hand.
In der bayernweit einzigen therapiebegleitenden Anlaufstelle für Krebspatientinnen und -patienten, aber auch für Angehörige werden unter einem Dach unterstützende Hilfeleistungen angeboten. Das LMU-Klinikum wie auch das Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität (TU) arbeitet an der Pettenkoferstraße 8a zusammen mit dem Tumorzentrum des CCC, der Krebsgesellschaft und dem Verein Lebensmut. 13 Berater und Beraterinnen suchen individuelle Wege, um den Menschen mit der Diagnose Krebs, die das Leben so grundlegend verändert, zu helfen.
Von der Diagnosestellung bis zur palliativen Begleitung - "wir begleiten jede Phase der Krankheit", sagt Amann. Ob es darum geht, dass der Patient Hilfe beim Antrag für einen Schwerbehindertenausweis oder eine Perücke braucht, weil sie durch die Chemotherapie die Haare verloren hat. Oder um die richtigen Ernährungstipps. "In den meisten Fällen können wir zum Beispiel mit individuellen Essenstipps der Appetitlosigkeit entgegenwirken", sagt Ernährungsberaterin Sarah Löhnchen.
Und es geht darum, was Krebs auslöst: in den Familien, bei Alleinerziehenden, bei den Kindern. Wie ein Brennglas offenbare die Erkrankung oft Hintergründe, sagt Amann: nicht mehr intakte Familien, prekäre Verhältnisse, Geldsorgen. Viele Menschen, gerade ältere, leben allein. Die Frage, wie man sich selbst versorgen kann, steht oft im Raum. Auch die Frage, wie man sich auf den Tod vorbereite, sagt Anita Regenberg von der Krebsberatungsstelle der Bayerischen Krebsgesellschaft. Brauche ich eine Patientenverfügung? Wie regle ich alles?
Und da ist die Frage einer Mutter, eines Vaters: Wie sage ich es den Kindern, dass ich Krebs habe? Pia Kandlinger, 27, vom Verein Lebensmut erzählt von den vielen Familiensprechstunden im Patientenhaus. "Kinder sind sehr direkt", sagt sie, und sie stellten viele Fragen. Ganz wichtig sei es aber, die Krankheit zu benennen. Krebs auch zu sagen und nicht drum herum zu reden. Im Patientenhaus gibt es für die Kinder auch mal eine krebsfreie Zone, einen "Freiraum", wie ein Treffpunkt für Jugendliche heißt. Hier wird erzählt, hier wird geschwiegen und auch mal zusammen geweint.
Die Finger der 46-jährigen Patientin werden oft taub. Wieder wendet sie sich ans Patientenhaus. Sie will ein bisschen Sport machen, braucht Bewegung. Und wieder hilft ihr Angelika Amann, die sie liebevoll "meinen kleinen Gott" nennt. Alle im Patientenhaus seien "Gewinnbringer" und alle seien, sagt sie und lacht, "so schön normal hier".
Niedrigschwellige und kostenlose Angebote
Wichtig ist es dem Direktor des CCC, Volker Heinemann, dass im Patientenhaus alles "niedrigschwellig und vor allem kostenfrei" ist. Und dass die Angebote wirklich auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sind. "Deshalb haben wir den Patientenbeirat des CCC", sagt Heinemann. Das Gremium aus Betroffenen und Angehörigen spiele eine ganz wichtige Rolle. "Es gehe", sagt Corina Weixler vom Patientenbeirat, um den "komplexen Blick" auf das, was die Erkrankten wirklich brauchten. Noch enger wolle man daher mit den Patienten arbeiten, sie noch mehr in medizinische Prozesse einbeziehen, sagt Hana Algül vom Klinikum rechts der Isar. Was in Zukunft heißt: Fortbildungen oder einen Patiententag anbieten sowie Patienten-Fragestunden.
Angelika Amann spricht immer wieder von "krebsfreien Inseln", die so wichtig seien, damit man dem Alltag trotz der Krankheit eine Struktur geben könne. "Alles neu in das Leben einzubinden" sagt sie, sei " so wichtig". Und sie betont das Wort Leben. Das gilt auch für die 46-jährige Patientin, die mit Hilfe des Patientenhauses Inseln für sich gefunden hat. Denn heilbar ist ihr Krebs nicht. Er werde immer wiederkommen, sagt sie. Die Option, aufzugeben, gebe es aber nicht. Schon allein wegen ihrer Tochter nicht. Sie ist erst sechs Jahre alt.