Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung:"Stehen Sie auf und widersprechen Sie!"

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Gedenken im Lichthof des LMU-Hauptgebäudes, dort wo die Widerstandskämpfer der Weißen Rose wirkten. (Foto: Stephan Rumpf)

Frank-Walter Steinmeier würdigt in der LMU den Widerstand der Weißen Rose. Besorgt klingt der Bundespräsident bei seiner Zustandsbeschreibung der Bundesrepublik.

Von Bernd Kastner

Wer die Gefahr noch immer nicht realisiert, den versucht der Bundespräsident aufzurütteln. "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit": Frank-Walter Steinmeier greift diese Worte der Weißen Rose auf, trägt sie in die Gegenwart und ruft den heute jungen Menschen zu: "Beteiligen Sie sich an unserer Demokratie! Glauben Sie nicht den vermeintlich einfachen Lösungen! Stehen Sie auf und widersprechen Sie, wenn Menschen in ihrer Würde angegriffen werden!"

Vor 80 Jahren legten Hans und Sophie Scholl das sechste Flugblatt ihrer Widerstandsgruppe in der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMU) aus, die letzten Exemplare ließen sie in den Lichthof hinunterflattern. Ein LMU-Hausmeister erwischte die Geschwister und verriet sie. Es war der 18. Februar 1943, jener Tag, an dem Joseph Goebbels seine Rede vom "totalen Krieg" hielt.

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Seit dem 50. Jahrestag ist es Tradition, dass alle zehn Jahre der Bundespräsident eine Gedächtnisvorlesung in der LMU hält. Steinmeier reiht sich im Audimax ein und würdigt den Mut der Mitglieder der Gruppe. Sieben von ihnen starben für ihre Courage: Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Kurt Huber, Alexander Schmorell, Willi Graf, Hans Leipelt.

Eine appellative Rede hält der Bundespräsident, in seinem Skript stehen mehr als 50 Ausrufezeichen. Es wundert nicht bei diesem Thema, sind doch die jungen Widerständler von einst seit Jahrzehnten Maßstab und Vorbild. "Es war ein einsamer Widerstand", sagt Steinmeier und bezieht sich auf eine Analyse des Historikers Wolfgang Benz, "ein Widerstand der Außenseiter". Dass die Weiße Rose bis heute so sehr leuchtet, liegt auch daran, dass es um sie herum in Deutschland so dunkel war, dass so viele Menschen so viel geschehen ließen, aus Fanatismus oder Gleichgültigkeit oder Angst.

Mitglieder des Widerstands wurden lange noch als "Verräter" gebrandmarkt

Sein Erinnern an die Weiße Rose verbindet Steinmeier mit der Feststellung, "dass die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich kennt". Diese Geschichte müsse dauerhaft Mahnung sein, "damit nicht wieder geschehen kann, was geschehen ist". Er wiederholt die Worte des großen Primo Levi und nutzt seine Rede, um zu betonen, was im größten Teil der heutigen Gesellschaft Konsens ist: dass das Land von außen befreit wurde, dass in den langen ersten Jahren der Bundesrepublik nationalsozialistische Eliten in Staat und Gesellschaft fortwirken durften, dass Mitglieder des Widerstands lange noch als "Verräter" gebrandmarkt wurden. Den Menschen in der DDR sei es zu verdanken, dass heute alle Deutschen in einer Demokratie leben und der Mut nicht mehr nötig ist, den die Mitglieder der Weißen Rose aufbrachten.

Spätestens jetzt, an einem Tag, der zufällig der zehnte Geburtstag der AfD ist, kommt Steinmeier in der Gegenwart an. Der Bundespräsident nennt keine Namen, nicht von Personen und nicht von Parteien, aber das ist auch nicht nötig. Es ärgere ihn sehr, wenn heute in der politischen Auseinandersetzung von "Widerstand" gesprochen werde, mit Bezug auf historische Vorbilder: "Nichts rechtfertigt die Gleichsetzung des Protests in einer Demokratie mit dem Widerstand in einer Diktatur!"

Steinmeier erinnert an den jüdischen Juristen Karl Löwenstein, der von der LMU vertrieben wurde und den Begriff der "wehrhaften Demokratie" geprägt habe: Heute müsse sich die Demokratie gegen Angriffe von außen und von innen wehren. Gegen die Aggression Russlands mit einer gut ausgerüsteten Bundeswehr, aber auch gegen Rechtspopulisten und Menschen, die Hass auf Minderheiten verbreiten.

"Es ist an uns, unsere Demokratie zu schützen!", sagt Steinmeier

Steinmeier erinnert an die rechtsextremen Anschläge gegen Walter Lübcke, in Halle und in Hanau. Was er nicht erwähnt: den ebenfalls rechtsextremen Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016. Die Angehörigen der neun Ermordeten leiden darunter, dass diese Tat noch allzu oft vergessen wird in der Reihe rechtsextremer Anschläge der jüngsten Vergangenheit.

Besorgt klingt der Bundespräsident bei seiner Zustandsbeschreibung der Bundesrepublik, 100 Jahre nach dem Hitlerputsch, 90 Jahre nach der Machtübertragung an Hitler, 80 Jahre nach den Morden an den Mitgliedern der Weißen Rose. Den Mut der getöteten Widerständler und der vielen, die in anderen Städten unter großer Gefahr mithalfen, die Flugblätter zu verteilen, nimmt er als Ansporn für die heutige junge Generation. "Jeder, der an mehr denkt als nur (an) sich selbst, stärkt das Rückgrat der Demokratie."

Von diesem Einsatz "brauchen wir in den nächsten Jahren noch mehr". Steinmeier sieht im Wirken der Weißen Rose einen "Auftrag an uns, die in einer Demokratie leben": Sei es, sich in Vereinen, Initiativen oder Parteien zu engagieren, sei es, sich für die Zukunft des Planeten einzusetzen. "Es ist an uns, unsere Demokratie zu schützen!" Das ruft er den Studierenden zu, gemeint aber sind alle Bürgerinnen und Bürger. "Es ist an uns, nicht gleichgültig zu sein." Ausrufezeichen.

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