Elisabeth ist Alkoholikerin. Aufgewachsen in einer Familie, in der trinken etwas ganz Normales war. Zu jedem Essen stand das Bier auf dem Tisch. „Meinen ersten Filmriss hatte ich mit 14“, sagt sie.
Totti ist Alkoholiker. Aufgewachsen als Wirtssohn. „Mein Vater ist noch mit drei Flaschen Kümmerling Auto gefahren“, sagt er. Totti trank mit 14 schon ordentlich Bier. „Ganz normal.“
Beide haben ihre Rettungsinsel bei den Anonymen Alkoholikern (AA) gefunden. Und für beide ist Weihnachten mit traurigen Erinnerungen verbunden. Als sie als Kinder mit Chaos, Streit, Gewalt in diesen Tagen leben mussten – und mit betrunkenen Eltern am Heiligen Abend. „Manchmal fühlte ich mich so allein“, sagt auch Sarah. Sie hat die gleichen Erfahrungen machen müssen und hat Hilfe bei den Al-Anon Familiengruppen gefunden – eine Gemeinschaft von Verwandten und Freunden von Alkoholikern.
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In Deutschland konsumieren laut AA an die 7,9 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren Alkohol in „gesundheitlich riskanter Form“. Etwa 1,6 Millionen Menschen in dieser Altersgruppe seien alkoholabhängig.
Weihnachten ist für Alkoholkranke und Angehörige von Alkoholikern eine schwere Zeit. Viele müssen nicht arbeiten, fühlen sich einsam und verlieren in diesen Tagen ihre Struktur. Manche wollen auch nicht in die Familien zurück, weil sie Angst vor Alkohol und Auseinandersetzungen haben. Deshalb wollen die Anonymen Alkoholiker München in dieser Zeit Betroffene und Angehörige mit zahlreichen Angeboten unterstützten. Damit es nicht zu „durchtränkten“ Weihnachten kommt, wie Elisabeth sagt, oder zu „Frust-Trinkerei“.
Die AA München bieten daher mehr „Meetings“ an, in denen sich Alkoholkranke treffen können. In der Kontaktstelle der AA in der Landwehrstraße 9 können Betroffene zum Beispiel an Heiligabend von 19 bis 23 Uhr vorbeischauen wie auch am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag von 11 bis 23 Uhr. Morgenmeditationen, Tagesmeetings, tägliche Online-Meetings stehen auch auf dem Programm. „Genau das wollen wir nach außen tragen“, sagt Jürgen von den AA-München. „Wir wollen, dass alle Betroffenen wissen, dass es einen Plan B gibt, wenn Weihnachten schiefläuft.“
Einsamkeit ist gesundheitsschädigend
Weihnachten ist das Fest der Familie. Aber was ist, wenn man keine Familie mehr hat? Weil die Kinder aus dem Haus sind, der Partner gestorben ist? Was ist, wenn man alt oder krank ist? Aus Alleinsein wird schnell Einsamkeit. Aus Einsamkeit beginnt man zu trinken. „Weil sich das Leben so scheiße anfühlt“, sagt Totti.
Alleinsein ist etwas anderes als Einsamkeit. Man kann zum Beispiel allein in die Berge fahren, bewusst allein verreisen und diese Zeit als schön empfinden. „Nicht jeder, der allein ist, ist also einsam“, sagt Norbert Ellinger, Leiter der kostenlosen Krisen- und Lebensberatung „Münchner Insel“, der jahrelang auch Telefonseelsorger war. „Einsamkeit dagegen ist ein subjektives Gefühl, das von den Menschen vor allem als großer Schmerz empfunden wird.“ Ein Schmerz, der oft durch Alkohol oder auch andere Drogen betäubt wird. „Um das schlechte Gefühl wegzubekommen, weil man es nicht aushalten kann.“
Suchtberatung:„Wie kann ich das ansprechen, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen?“
Wer Schwierigkeiten im Umgang mit Alkohol und anderen Rauschmitteln hat, findet in Suchtberatungsstellen Hilfe. Die Arbeit dort ist vielfältig – und richtet sich längst nicht mehr ausschließlich an direkt Betroffene mit dem Ziel, abstinent zu werden.
Er nennt auch Auslöser für Einsamkeit: Trauer, Trennungen, Umzüge, der Verlust des Arbeitsplatzes. „Einsam fühlen sich Menschen unabhängig vom Alter in allen Phasen des Lebens“, sagt Ellinger. Gerade immer mehr junge Menschen hätten seiner Erfahrung nach Probleme, nach einem Umzug in der neuen Umgebung soziale Kontakte zu knüpfen.
Das Einsamkeitsbarometer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nennt soziale Gruppen, die leichter in eine Einsamkeitsbelastung rutschen: Kinder und Jugendliche, ältere und hochbetagte Menschen, Alleinerziehende oder Menschen, die pflegebedürftige Personen betreuen, migrations- und fluchterfahrene Menschen, Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie andere queere Menschen wie auch chronisch Erkrankte oder Menschen mit Behinderungen.
Einsamkeit ist für Ellinger, der auch evangelischer Pfarrer ist, immer noch ein Tabuthema. So viele Menschen hätten Angst davor zu sagen, dass sie einsam seien, aus Angst vor Fragen oder Aufforderungen wie: „Los, tu was dagegen.“ Ein Tabuthema ist auch noch immer Alkoholismus.
Aufgrund von Vereinsamung oder übermäßigem Alkoholkonsum suchten nicht mehr Patienten an den Weihnachtstagen in der Notaufnahme Harlaching Hilfe, sagt Florian Demetz, Chefarzt für Akut- und Notfallmedizin. Dafür komme es aber mehrfach am Tag vor, dass gerade alte Menschen für eine medizinische Versorgung in die Notaufnahme kämen. Nach der Behandlung könnten viele eigentlich wieder nach Hause, aber auf die Frage, ob sie denn jemand versorgen könne, komme dann oft ein Nein. „Plötzlich wird dann ein Scheinwerfer auf eine Ecke des Lebens gerichtet, über die man im alltäglichen Leben nicht sprechen würde“, sagt Demetz.
Wie jeder einsamen Menschen helfen kann
Chronische Einsamkeit macht krank. Studien belegen, dass das Risiko für einsame Menschen steigt, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, an Depressionen oder Demenz zu erkranken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht bei einsamen Menschen sogar von einer höheren Sterblichkeit aus.
Die AA bieten Hilfe an den Weihnachtstagen an. Menschen, die an Weihnachten nicht allein sein möchten, können sich auch bei der Münchner Insel Informationen holen, wo es in ihrer Nähe passende Angebote gibt. Was können wir tun? „Gut hinsehen“, sagt Ellinger. Auf Menschen schauen, die allein leben. Oft erkenne man einsame Menschen daran, dass sie zurückgezogen lebten, anderen misstrauisch begegneten, dass sie ständig grantig seien. Aktiv auf sie zugehen, sie zum Beispiel fragen, was sie denn an Weihnachten machen würden, eine kleine Geste – all das reiche oft schon, um den Menschen wieder ein wenig mehr in die Gesellschaft zu holen.
Totti mag übrigens Weihnachten inzwischen. „Sehr sogar“, wie er sagt. Weil er zurückgefunden hat ins Leben. Das Schöne darin sieht und nicht allein ist.