Fast 140 Jahre alt ist es, Deutschland ältestes noch erhaltenes Flaschenbier. Abgefüllt in der Kaiserzeit 1885. Forschenden der Technischen Universität München (TUM) wurde nun die Ehre zuteil, es zu öffnen, zu analysieren - und sogar zu verkosten. Einer von ihnen ist Martin Zarnkow, 55, Leiter der Abteilung Technologie und Entwicklung im Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität. Er ist zudem Qualitätsprüfer für Bier bei der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG). Für den gebürtigen Nürnberger war die Untersuchung "keine Routine", sondern etwas Außergewöhnliches. Der Wissenschaftler erzählt, wie das historische Getränk schmeckt, warum es sich so lange gehalten hat und wie es sich vom modernen Bier unterscheidet.
SZ: Sie haben gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vor Kurzem eine Studie über Deutschland ältestes Bier aus dem Jahre 1885 veröffentlicht. Wie sind Sie darauf gestoßen?
Die Brauerei Barre aus Lübbecke kam auf uns zu und sagte, sie hat diesen besonderen Fund, der seit den Siebzigerjahren bei ihr im Museum steht. Sie hatte sich dazu entschlossen, und das ist das Besondere daran, zu erlauben, dass man an das Getränk heran darf. Das war alles andere als Routine.
Woher kommt das Bier ursprünglich?
In der Stadt Lübbecke gibt es noch einen anderen Industriebetrieb. In dieser anderen Firma war wohl die Flasche in einem Tresor viele Jahrzehnte versteckt. Dieser Tresor war in einem Büro und das war weggemauert worden. Ganz ehrlich, ich bin nicht sicher, ob das alles stimmt, aber so wurde es mir erzählt. Entscheidend für uns ist, sie war immer unter atmosphärischen Bedingungen.
Warum ist das entscheidend?
Üblicherweise kommen wir an solche Proben ran aus Schiffwracks vom Meeresboden und die sehe ich immer recht kritisch. Die sind natürlich von der Temperatur her perfekt, immer schön kalt. Kein Licht, kein Sauerstoff kann Einfluss nehmen. Aber ich bin nie sicher, ob nicht salziges Meereswasser reingelangt.
Hat denn die Lagerung die Zusammensetzung des alten Barre-Biers beeinflusst?
Das Überraschende für uns war, dass es sehr, sehr präzise den Bieren der damaligen Zeit entsprochen hat, im Alkoholgehalt, im Restsüßegehalt. Wir müssen also davon ausgehen, auch wenn wir das Etikett betrachten, dass sich das Bier von diesen Merkmalen her nicht verändert hat.
Wie konnte sich das Bier so lange halten?
Das ist überhaupt kein Problem. Ein korrekt abgefülltes Bier kann sich über Jahrhunderte halten. Das Mindesthaltbarkeitsdatum steht nicht dafür, dass das Bier, wenn es darüber liegt, kaputt gehen kann. In einem normalen Bier kann nichts Pathogenes wachsen, mit einem alkoholfreien Bier schaut es natürlich anders aus. Ein normales Bier hat einen gewissen Alkoholgehalt, eine CO2-Atmosphäre und Bitterstoffe, die schützen und es hat fast keine Restsüße mehr. Mikroorganismen haben nichts mehr zu verstoffwechseln. Außerdem liegt der Säuregehalt unter 5,0. Somit hatten wir keine Bedenken, das Bier zu probieren. Was auch meine Kollegen Hutzler, Schmitt-Kopplin und Piezconka mit ihren Analysen bestätigen konnten.
Wie hat es geschmeckt?
Das ist echt ein tolles Bier. Unglaublich harmonisch. Es hat diese Aromen des Alters, aber die sind sehr positiv, wie Dörrobst, Pflaume und Cherry. Es hat aber keine Schwere dadurch bekommen, sondern ist in gewisser Weise schlank und süffig. Es hat auch eine angenehme Bittere und der Säurecharakter, also der Erfrischungscharakter ist wirklich ohne Fehl und Tadel. Man kann es vielleicht mit einem etwas älteren, dunklen Lagerbier vergleichen. Obwohl es ja ein Pilsner ist, aber das hat sich tatsächlich durch die Alterung verändert.
Inwiefern unterscheidet sich das historische von modernem Bier, was die Herstellung betrifft?
Das Spannende ist, dass nach unseren Erkenntnissen die Bierherstellung 1885 bei der Barre Brauerei in Lübbecke wohl schon eine sehr moderne Herstellung war. Erstens, sie hat nach dem Reinheitsgebot gebraut, was sie nicht hätten machen müssen. Sie befand sich nicht im Wirkbereich des gesetzlich verankerten Reinheitsgebots in Bayern. Und sie hat dieses moderne Brauverfahren umgesetzt, das heute noch größtenteils seine Gültigkeit hat. Das Bier wurde zum Beispiel filtriert. Die Filtration war nur wenige Jahre vorher erfunden worden.
Sie forschen seit 25 Jahren rund um das Thema Bier. Wie kamen Sie zu diesem Beruf?
Ich habe das schon immer gewusst, also seitdem ich aus der Pubertät herausgekommen bin, dass ich Bierbrauer werden wollte. Ich komme eigentlich gar nicht aus einer Brauerfamilie, aber mich hat das Thema Lebensmittelherstellung immer fasziniert. Natürlich schmeckt mir Bier auch. Das ist elementar für die Beurteilung und die Technologie. Unser Professor Ludwig Narziß, der in wenigen Tagen 97 Jahre alt wird, sagt bis heute: Bring mir erst das Bier und dann reden wir über die Technologie.