Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:"Ich musste wieder gehen, obwohl der Arzt doch Zeit gehabt hätte"

  • Ein neues Gesetz soll Kassenpatienten zu kürzeren Wartezeiten verhelfen. Doch der wirkliche Nutzen der neuen Regelung ist umstritten.
  • Kritiker befürchten, das neue Gesetz könne dazu führen, dass weniger Ärzte Kassenpatienten betreuen wollen.

Von Alessa Becker

Lisas Ärger mit dem Gesundheitssystem beginnt, als ihr Hausarzt Auffälligkeiten im Blutbild feststellt. "Mit meiner Schilddrüse stimmt etwas nicht, das wollte ich so schnell wie möglich abklären", sagt die 17-Jährige. Sie ging also ins Internet und wollte dort bei einem Facharzt einen Termin ausmachen, einen Service, den immer mehr Mediziner anbieten. Doch die Angelegenheit gestaltete sich schwieriger als gedacht. Vier Monate sollte Lisa warten, bis sie mit ihrem Problem vorsprechen darf. Das liegt nicht daran, dass keine Termine frei wären. Es liegt schlicht an der Krankenversicherung der Teenagerin, die eine gesetzliche ist. "Wenn ich ankreuze, dass ich privat versichert bin, beträgt die Wartezeit nur eine Woche, das ist doch nicht fair", ärgert sich Lisa. Sie schummelt bei der Anmeldung, verschweigt online ihre gesetzliche Versicherung - und wird eine Woche später beim Termin in der Praxis abgewiesen. "Keine Kapazitäten frei für Kassenpatienten, ich musste wieder gehen, obwohl der Arzt doch Zeit gehabt hätte", erzählt sie.

Was viele Münchner schon von der Online-Anmeldung im Kreisverwaltungsreferat kennen, wenn sie einen neuen Pass brauchen, wird nun auch in den Arztpraxen der Stadt zunehmend zum Alltag. Zwar könnte man sich rein theoretisch bequem übers Internet einen Termin reservieren, in der Praxis aber ist Wochen bis Monate im Voraus nichts frei. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Teil der Patienten benachteiligt ist. Wer eine private Versicherung hat, wird umgehend behandelt. Gesetzlich Versicherte müssen warten.

Rund 3000 Fachärzte, so teilt die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) mit, praktizieren in München, davon sind mehr als ein Drittel Psychotherapeuten. Damit wäre die Stadt ganz gut ausgestattet, und doch haben viele Patienten generell Schwierigkeiten, zeitnah einen Termin zu finden. Vor allem bei Rheumatologen, bei Psychiatern und Nervenärzten, Endokrinologen wie Lisa einen bräuchte, speziellen Orthopäden und Dermatologen sind lange Wartezeiten keine Seltenheit. "Um eine Neuaufnahme beim Kinderarzt zu bekommen, müssen Neuzugezogene oft durch die halbe Stadt reisen", sagt Carola Sraier, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen. Das sei bei Verdacht auf eine ernsthafte Erkrankung eine Zumutung für die Patienten.

"Es gibt bei den allermeisten Praxen Unterschiede in der Terminvergabe zwischen privat und gesetzlich Versicherten", sagt Sraier. Denn: "Wenn man als Facharzt in der gleichen Zeit das Vielfache verdienen kann, dann ist doch klar, dass man lieber eine Botoxinjektion setzt, als ein normales Screening durchzuführen." Diese Unterschiede werden bei der Online-Anmeldung deutlich, weil hier jeder einsehen kann, wann Termine angeboten werden.

Gesundheitspolitiker wollen die Ungleichbehandlung beseitigen. Von Mai an soll das neue Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) Patienten zu schnelleren Arztterminen verhelfen. Mediziner sollen generell mehr Sprechstunden anbieten, grundversorgende Fachärzte wie Augenärzte, Frauenärzte, Orthopäden oder Hals-Nasen-Ohren-Ärzte zusätzlich auch offene Sprechstunden, bei denen keine vorherige Terminvereinbarung nötig ist. Verstößt eine Praxis gegen die vorgeschriebenen Sprechzeiten, drohen Sanktionen, Honorarkürzungen zum Beispiel.

"Wir nehmen hier auch Kassenpatienten, aber damit fühlt man sich als Facharzt mittlerweile schon fast exotisch"

Münchner Experten sind von diesen Vorschlägen allerdings nicht überzeugt. "Hoffentlich führt dieser Passus nicht dazu, dass noch mehr Praxen als bisher keinen Nachfolger finden oder die Kassenzulassung zurückgeben", sagt Sraier. Sie rechne gar damit, dass das Gesetz längeren Wartezeiten und organisatorische Unwägbarkeiten in den Praxen zur Folge haben könnte. Auch Christoph Emminger, Vorsitzender des Ärztlichen Kreis- und Bezugsverbands München (ÄKBV) ist skeptisch: "Es gibt Änderungsbedarf, aber das Terminservicegesetz wird meiner Meinung nach nicht benötigt, denn es schränkt die Kollegen nur noch mehr ein." Emminger schlägt vor, finanzielle Anreize zu schaffen, um die Verfügbarkeit ärztlicher Versorgung zu verbessern und vor allem die Notfallambulanzen zu entlasten. Denn die arbeiten jetzt schon am Limit, was auch an den langen Wartezeiten bei den niedergelassenen Ärzten liegt. "Menschen, die nicht schnell genug einen Termin beim Facharzt bekommen, kommen oft in die Notaufnahme", sagt Christoph Dodt, Chefarzt des Notfallzentrums München im Klinikum Bogenhausen.

Dass es auch anders geht, beweist Urologe Ulrich Pickl, der eine Praxis in der Innenstadt führt. "Wir nehmen hier auch Kassenpatienten, aber damit fühlt man sich als Facharzt mittlerweile schon fast exotisch, denn in der Innenstadt gibt es immer mehr Praxen, die nur Privatpatienten nehmen", sagt er. Für die Kassenpatienten steht Pickl wie den anderen Fachärzten pro Quartal nur ein gewisses Budget zur Verfügung. "Wenn das ausgeschöpft ist, bekommen wir weniger Geld." Und trotzdem gilt für ihn: "Selbst wenn das ganze Wartezimmer voll ist, ist es wichtig, dass die Kassenpatienten gleich behandelt werden."

Schülerin Lisa hilft das wenig. Sie wird nun vier Monate auf ihren Arzttermin warten müssen. Wer das nicht auf sich nehmen will, kann sich an die Kassenärztliche Vereinigung wenden. Die bietet Patienten, die eine Überweisung zu einem Facharzt haben, eine Terminvergabe innerhalb von vier Wochen an. Um dieses Angebot in Anspruch zu nehmen, muss man sich an Terminservicestellen wenden. Und die sind nicht im Internet, sondern über die Telefon 0921/787 76 55 50 20 erreichbar.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4419853
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.04.2019/smb
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.