Wachstum Münchens:"Reine Retortenstädte funktionieren nicht"

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Germering ist die Umlandgemeinde von München, die am meisten wächst. In den vergangenen 17 Jahren sind 14857 dorthin gezogen. (Foto: Johannes Simon)

Jahr für Jahr ziehen mehr Münchner ins Umland. Das verändert die Kommunen. Noch gäbe es eine Chance, Zuständen wie in London oder Paris entgegenzuwirken, sagt Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler.

Von Birgit Kruse (Interview) und Benedict Witzenberger (Grafiken)

Es ist seit Längerem ein Trend, der sich seit einigen Jahren verstärkt: Immer mehr Münchner ziehen von der Stadt in die Umlandgemeinden. Allein im Jahr 2016 waren es 25 969 Menschen. Wie wirkt sich dieser Zuzug auf die Sozialstruktur in den Kommunen aus? Braucht es weitere Neubau- und Gewerbegebiete? Norbert Göttler ist seit 2012 Oberbayerns Bezirksheimatpfleger. Der 59-Jährige lebt im Landkreis Dachau - und auch sein Heimatbegriff hat nicht mehr allein mit dem Geburtsort zu tun.

SZ: Herr Göttler, München wächst. Bis zum Jahr 2030 werden hier schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen leben. Wohnraum wird immer teurer. Wird München bald nur noch eine Stadt für Reiche sein?

Norbert Göttler: Wir werden damit leben müssen, dass immer mehr Menschen nach München wollen. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. Es gibt in Europa schon Städte wie Paris und London, die die negativen Folgen des starken Wachstums einfach zugelassen haben. Kaum einer kann sich dort noch die teuren Innenstadtlagen leisten. Das ist nicht erstrebenswert. Für München hätten wir jetzt noch die Chance, diesem Trend entgegenzuwirken. Mehr als Eindämmen wird aber nicht mehr möglich sein.

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Wie kann das aussehen?

Durch eine Dezentralisierung der Wirtschaft, die die Politik langfristig anlegen muss. Auslagerungen hat es ja in der Vergangenheit gegeben, wie etwa BMW mit ihren Werken in Niederbayern und in der Oberpfalz. Aber das ist Jahrzehnte her. Seitdem ist nicht viel Nennenswertes passiert.

Es sind Behörden aus München weggezogen, Hochschulen dezentralisiert worden.

Behördenauslagerungen sind eher psychologischer Natur. Was da schon effektiver ist, ist die Verlegung oder Gründung von Hochschulen. Studenten ziehen in andere Städte, und viele bleiben nach dem Studium in der Region. Einen durchschlagenderen Erfolg hätte man aber nur mit der Dezentralisierung der Großwirtschaft. Nur so könnte man den massivsten Druck auf den Wohnungsmarkt mildern. Der freie Markt wird die Probleme jedoch nicht aus eigenem Interesse heraus angehen. Dafür braucht es ökonomische Anreize. Gerade die könnten wir mit unserer föderalen Struktur schaffen. Das Fatale aber ist, dass es dafür kaum Konzepte gibt.

So wächst mit der Wirtschaft die Bevölkerung - und der Siedlungsdruck auch in den Umlandgemeinden. Doch auch dort fehlt häufig bezahlbarer Wohnraum. Muss neues Bauland zügiger ausgewiesen werden?

Im Gegenteil. Mir wird zum Teil zu schnell ausgewiesen. So kommen wir nicht weiter. Die Folge der zügellosen Ausweisung von Bauland ist, dass die Ortskerne zunehmend veröden.

Ohne Neubauten wird es auch nicht gehen.

Keine Frage. Aber moderat. Sonst bekommen wir Zustände, wie man sie in den Banlieues von Paris beobachten kann. Wir Heimatpfleger sind uns einig: Zuerst müssen die Ortskerne gestärkt und nachverdichtet werden. Erst wenn das Potenzial ausgeschöpft ist, brauchen wir auch Neubaugebiete. Wenn die Zentren veröden, stirbt der ganze Ort.

Wie würde sich ungehemmtes Wachstum auf die Strukturen der Umlandkommunen auswirken?

Ungehemmtes Wachstum kann für die Sozialstruktur eines Orts sehr problematisch werden. Sicher, es gibt es viele Zugezogene, die sich zunächst sehr für ihren neuen Wohnort interessieren. Doch das Engagement ist meist sehr kurzfristig. Für eine funktionierende Sozialstruktur braucht es aber ein längerfristiges Engagement in den Vereinen oder Verbänden, die einen Ort auch prägen. Rasch wechselnde Bevölkerungsströme erschweren heimatliche Bindung.

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Weil Heimatgefühl erst wachsen muss?

Zum einen. Doch viel wichtiger ist, dass sich der Heimatbegriff verändert hat. Früher war Heimat mit einem topografischen Ort verbunden. Der Ort, in dem man geboren wurde, spielt für viele gar keine Rolle mehr. Heute ist Heimat ein viel abstrakterer Begriff geworden. Es gibt nicht nur eine Heimat, sondern Heimaten. Das kann dann ebenso die soziale Vernetzung sein als auch der sonntägliche Museumsbesuch.

Das ist doch aber noch nicht zwangsläufig ein Widerspruch zum eigenen Engagement in seiner Kommune.

Nicht direkt. Doch viele wissen gar nicht, wie lange sie überhaupt in ihrem Ort bleiben, ob sie in fünf Jahren nicht vielleicht schon ganz woanders leben. Unter solchen Umständen ist es schwer, längerfristige soziale Bindungen aufzubauen. Und so entstehen relativ anonyme Siedlungen. Reine Retortenstädte funktionieren nicht. Ein Ort muss wachsen ...

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... und gut geplant werden.

Richtig. Natürlich müssen wir in Zukunft auch mit großen Trabantenstädten leben, aber auch die kann man gut oder weniger gut gestalten. Wenn ich den Leuten ein vollkommen unattraktives Zentrum biete, muss ich mich später nicht wundern, wenn es sich nicht mit Leben füllt. Schon in der Gestaltung des Ortsbildes wird der Grundstein für eine funktionierende Sozialstruktur gelegt.

Was meinen Sie konkret damit?

Dort, wo die meisten Menschen hinziehen, müssten auch die besten Planer und Architekten arbeiten. Doch für viele Planer ist es offenbar nicht sexy, sich mit der architektonischen Entwicklung des Speckgürtels zu befassen.

Schöne Ortskerne sind das eine. Flächenfraß durch immer neue Gewerbegebiete ist ein weiteres Problem, mit dem die Metropolregion zu kämpfen hat. Sind hier nicht vor allem die Kommunen gefragt, besser zusammenzuarbeiten?

Jede Gemeinde wird versuchen, so viel Gewerbe wie möglich anzusiedeln, allein schon wegen der Gewerbesteuer. Die Gemeinden befinden sich inzwischen in einem Konkurrenzkampf, der auf einem immer niedrigeren Niveau stattfindet. Das geht auf Kosten der Umwelt und der Ästhetik. Die beste Lösung wäre, Gewerbeflächen zusammenzulegen und den Erlös zu teilen. Dafür scheint es jedoch zu spät zu sein. Der Konkurrenzkampf unter den Gemeinden ist ungesund.

Zu kämpfen hat die Metropolregion auch mit dem stetig wachsenden Verkehr.

Die Pendler bringen ein zusätzliches Problem. Viele Gemeinden müssen immer mehr Parkplätze ausweisen, die ihnen aber keine Kaufkraft bringen. Vielmehr tragen sie dazu bei, den Ort zu verschandeln.

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Andere steigen gar nicht auf den öffentlichen Nahverkehr um, sondern fahren direkt in die Stadt. Werden die Pendlerströme zu einem Infrastrukturproblem?

Das haben wir längst. Wir können ja schon täglich den Verkehrsinfarkt sehen. Das wird immer so weiter gehen. Es wird jedoch nichts helfen, wenn wir immer breitere Straßen bauen. Was wir brauchen, sind mehr dezentrale Arbeitsplätze. Nur so kann die Region ihre Pendlerströme in den Griff bekommen. Doch das ist eine Aufgabe, die Politik und Unternehmen lösen müssen.

© SZ vom 17.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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