Süddeutsche Zeitung

Vorwurf des Kindesmissbrauchs:Ein Brief, zwei Wahrheiten

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Eine Mutter ist davon überzeugt, dass ihr Kind im Kindergarten sexuell missbraucht wurde - und denunziert den angeblichen Täter mit einem Brief. Doch der Kinderpfleger fühlt sich zu Unrecht beschuldigt. Vor Gericht wehrt er sich gegen den Missbrauchsvorwurf.

Bernd Kastner

Zwei Wahrheiten gibt es in dieser Geschichte, zwei Wahrheiten, die nicht zusammenpassen. Da ist die Mutter, die fest davon überzeugt ist, dass ihr Kind im Kindergarten sexuell missbraucht wurde und die von kaum vorstellbarer Sorge und Wut erfüllt ist. Da ist aber auch ein Mann, der eben dieses Missbrauchs beschuldigt wurde und der sagt: Ich bin unschuldig. Ist seine Version wahr, könnte dieser Missbrauchsvorwurf sein Leben für lange Zeit sehr schwer machen.

Wenn diese beiden Menschen, die Mutter und der Mann, aufeinandertreffen, ist das für beide eine enorme Belastung. Jeder fühlt sich vom anderen zutiefst verletzt. Die Mutter eines Jungen, der einen städtischen Kindergarten besucht hat, und ein Kinderpfleger aus dieser Einrichtung haben sich jetzt vor dem Landgericht wiedergesehen. Es geht um einen Fall aus dem vergangenen Jahr, in dem kein Außenstehender weiß, was wirklich geschehen ist. Und es geht um die Frage, was eine Mutter in solch einer Situation gegenüber anderen sagen darf.

So dramatisch die Vorwürfe sind, so banal klingt der Streit im Juristendeutsch. Es geht in diesem Zivilverfahren nicht um die Schuldfrage, sondern um eine "Äußerungssache". So heißt das, wenn jemand etwas sagt oder schreibt, was er nach Ansicht eines anderen nicht hätte sagen oder schreiben dürfen. In diesem Fall hat die Mutter im November 2011 einen Brief an einen Sportverein in ihrem Stadtteil geschickt und den Vorstand vor jenem jungen Mann gewarnt, der jetzt ein paar Meter neben ihr sitzt. Sie habe erfahren, dass der Kinderpfleger inzwischen in diesem Verein aktiv sei, weshalb der Klub doch achtgeben solle, dass dieser Mann Kindern nicht zu nahe komme. Den Brief hat sie so formuliert, dass ihn der Empfänger kaum anders verstehen kann, als dass dieser Sportler Schlimmes getan hat.

Die vermeintliche Tatsache ist in Wahrheit aber nur ein Vorwurf, ein Verdacht. Das Ermittlungsverfahren gegen den Pfleger ist im Juni nach einem Jahr eingestellt worden, es fanden sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft keine Belege, die eine Anklage getragen hätten. Zwar hatten mehrere Kinder ihren Eltern und teilweise auch den Ermittlern Erschreckendes berichtet, doch in einem psychologischen Gutachten wurde die Glaubwürdigkeit der Buben und Mädchen angezweifelt. Sie könnten beeinflusst worden sein, etwa durch Gespräche mit Eltern oder anderen Kindern. Die Einstellung des Verfahrens stieß bei einigen Müttern und Vätern auf großes Unverständnis.

Ein paar von ihnen sind jetzt in den Justizpalast gekommen und haben auf der Zuschauerbank Platz genommen. Der Saal ist holzgetäfelt, die Richterin sitzt erhöht, ihr Tisch wirkt wie eine Wand. Der Mann, der seit Bekanntwerden der Vorwürfe nicht mehr in einem Kindergarten arbeitet, schweigt die ganze Zeit. Die Mutter sagt irgendwann ein paar Sätze, ganz leise, ihre Stimme ist tränenerstickt: "Ich war einfach entsetzt." Ihr Sohn habe Anfang 2011 eine spürbare Wesensveränderung durchgemacht, nach und nach habe sie von anderen Eltern aus dem Kindergarten erfahren, was deren Kinder zu Hause erzählt hätten.

Als die Mutter, nach einem mehrwöchigen Kuraufenthalt, schließlich vom Engagement des Pflegers bei dem Sportverein erfahren hatte, da habe sie gehandelt: "Ich konnte überhaupt nicht anders als zu sagen: Achtung!" Deshalb dieser Brief, deshalb hat sie ihren Namen und ihre Adresse angegeben, sie habe gewollt, dass der Vereinsvorsitzende die Sache ernst nehme. Andere waren nicht so mutig, es sollen auch anonyme Anschuldigungen im Umlauf gewesen sein.

Die Akustik im Saal lässt die Stimme der Richterin hart klingen. Das kalte Licht aus den Neonlampenleuchtern verstärkt diese Atmosphäre, die so gar nicht zu diesem sensiblen Thema passen will. Gleich zu Beginn hat die Richterin in einem langen Monolog erklärt, dass sie das Tun der Mutter nachvollziehen könne: "Ich verstehe Ihre Motivation vollkommen." Sie habe aus Fürsorge für andere Kinder warnen wollen, allein: Der Weg sei der falsche gewesen, erklärt die Richterin wieder und wieder. Den Pfleger auf diese Weise an den Pranger zu stellen - "das dürfen Sie nicht".

Die Mutter hätte den Vorwurf der Staatsanwaltschaft melden dürfen, selbstverständlich. Unbeteiligten Dritten aber hätte sie ihn nur mitteilen dürfen, wenn sie deutlich gemacht hätte, dass es ein Verdacht ist, oder wenn sie den Missbrauch beweisen könnte. Letzteres sei aber so gut wie unmöglich, sagt die Richterin, und die Kinder als Zeugen zu laden - das würde ihnen jetzt mehr schaden als nutzen.

Von der Zuschauerbank ist leises Schluchzen zu hören. Auch die Eltern, die der beklagten Mutter bei dem Prozess beistehen wollen, nimmt die Verhandlung emotional sehr mit. Ins Gericht gekommen, so ist zu hören, ist auch der Vater des Klägers, doch den Verhandlungssaal betritt er nicht. Alle sind von ihrer Wahrheit überzeugt, doch Beweise hat niemand.

Beweise hat auch der Kinderpfleger nicht, Beweise, die ihm das geforderte Schmerzensgeld von 5000 Euro bringen würden. Er müsste umgekehrt belegen, dass er den Kindern nichts angetan hat. Das aber, sagt die Richterin, sei ebenso wenig denkbar wie der Beweis des Missbrauchs. Deshalb gibt es für den Pfleger auch kein Schmerzensgeld. Dennoch, für den Kläger, der im Ermittlungsverfahren der Beschuldigte war, gelte die Unschuldsvermutung, sagt die Richterin zur Mutter und wiederholt ihre juristische Argumentation.

Irgendwann hat sie die beiden Seiten von einem Vergleich überzeugt: Die Mutter verpflichtet sich, ihre Tatsachenbehauptung nicht zu wiederholen, der Pfleger bleibt ohne Schmerzensgeld. Der Vergleich beendet den Streit in dieser "Äußerungssache", gütlich, wie die Juristen sagen. Er wird aber kaum die Kraft haben, die Wunden zu heilen.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2012
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