Vorschlag-Hammer:Große Oper trotz Corona

In Zürich darf die Kunst mit dem Virus ganz anders umgehen als in München

Kolumne von Egbert Tholl

Von Zürich kann man derzeit viel lernen. Nicht was die Zahlen der mit Corona-Infizierten betrifft, da hat die Stadt ein ähnliches Problem wie München - sie steigen, vermutlich aus ähnlichen Gründen. Demgegenüber ist noch keine Theateraufführung, kein Konzert, kein Musiktheaterabend bekannt geworden, wovon man Anlass zur Ansteckung ableiten könnte. Eben auch nicht in Zürich, wo die Kunst mit dem Virus ganz anders umgeht, umgehen darf als in München.

Im Schauspielhaus bleibt strikt jeder zweite Platz leer, beziehungsweise ist er im Schiffbau gar nicht vorhanden, nicht einmal Paare dürfen direkt nebeneinander sitzen. Die halbe Platzkapazität ist allerdings erkauft mit der Auflage, auch während der Aufführung Maske tragen zu müssen. Im Opernhaus ist man noch offensiver: 900 Zuschauer dürfen rein. Das Haus hat 1150 Plätze. 250 bleiben leer. Mithin sitzt man auch direkt neben Menschen, die man nicht kennt, die man auch nicht erkennt, weil ja eben alle Maske tragen. Manche irritiert die Nähe.

Das Opernhaus Zürich hat sich aber noch viel mehr einfallen lassen. Wahren die Musiker den vorgeschriebenen Abstand zueinander, ist der Orchestergraben hier viel zu klein für große Oper. Nun fand man eine erstaunliche Lösung: Das Orchester der Philharmonia Zürich sitzt im Orchesterprobenraum, einen Kilometer von der Oper entfernt. Auch der Chor ist dort, wie man im Begrüßungsvideo sieht, sorgsam getrennt durch Plexiglasscheiben. Was der Chor singt und das Orchester spielt, wandert auf direktem Weg durch ein Glasfaserkabel in die Musikanlage des Opernhauses.

Bei der Premiere von Mussorgskis Boris Godunow, einer wahrlich großen Oper, funktionierte das alles fabelhaft gut. Die Soundanlage machte sogar die Orchesteraufstellung so plastisch, als säßen die Musiker im Graben. Nur bei den großen Massenszenen fehlte ein bisschen die Wucht, aber die meiste Zeit dachte man ohnehin nicht darüber nach, zu packend war die Aufführung. Der Dirigent Kirill Karabits, den die Solisten auf der Bühne nur über Monitor sehen konnten, modellierte den Klang vorbildlich, die Synchronisation mit der Bühne klappte weitgehend perfekt.

Dazu ließ sich Barrie Kosky eine Inszenierung einfallen, die in sich ungeheuer logisch ist und dabei auf den nötigen Abstand der Solisten zueinander achtet, was hier insofern leicht fällt, weil in "Boris Godunow" die Figuren ohnehin vereinzelt, mit ihren eigenen Problemen überladen sind, oft allein oder zu zweit auf der Bühne. Leben gibt es aber auch, das besorgt das Volk der Statisten, die alle bleiche Masken tragen und auch die Bühnenelemente umbauen, lange Zeit deckenhohe Archivregale und überladene Schreibpulte - die Geschichte wird aus der Historie Russlands heraus erzählt. Lernen von der Geschichte heißt, Russland heute zu verstehen. Die Sänger nun haben ganz offensichtlich nicht die geringste Mühe mit dem technischen Setting, Michael Volle gibt ein sensationelles Rollendebüt als Godunow, hochemotional, hochexpressiv. Und Brindley Sherratt ist ein so fabelhafter Pimen, dass man bei seiner langen Erzählung der Historie jede Corona-Unbill vergisst.

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