Vor zehn Jahren: Der Fall Mehmet:Der "Schrecken von Neuperlach"

Ein 14-Jähriger mit 62 Straftaten: Vor zehn Jahren wurde "Mehmet" aus München abgeschoben - und spaltete die Gesellschaft.

Beate Wild

Vor zehn Jahren, am 14. November 1998, wurde Muhlis A., ein damals 14-jähriger Straftäter aus Neuperlach, bekannt als "Mehmet", in die Türkei abgeschoben - und wurde zum Politikum. Seinetwegen stritten Politiker aller Parteien. Besonders der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein und der damalige Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl, beide christsoziale Politiker, setzten sich für die Abschiebung des Jugendlichen ein.

Vor zehn Jahren: Der Fall Mehmet: Mehmet 2001 im Gerichtssaal in München.

Mehmet 2001 im Gerichtssaal in München.

(Foto: Foto: ddp)

Die Öffentlichkeit war aufgebracht, es bildeten sich zwei Lager. Die einen reagierten mit Entsetzen auf die harte Hand, die der Staat gegenüber dem Problemkind walten ließ, die anderen begleiteten die Forderung nach der Abschiebung Mehmets - gar zusammen mit seinen Eltern - mit lauten Bravorufen. Bekannt wird der Fall im April 1998, als die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass der zu der Zeit noch 13-Jährige zusammen mit seinen Eltern ausgewiesen werden soll. Einen solchen Fall hatte es zuvor noch nie in Deutschland gegeben. Die Eltern hätten bei der Erziehung ihres brutalen und kriminellen Kindes versagt, der Bub sei mit rund 60 Straftaten in Deutschland nicht mehr tragbar, so Uhl. Er glaubt, die Ausweisung der Familie auf Grundlage des geltenden Rechts vollziehen zu können. Er will einen Präzedenzfall schaffen, offenbar versucht er, mit dem Fall Rechtsgeschichte zu schreiben. Das Strafregister von "Mehmet", wie Muhlis A. zum Schutz seiner minderjährigen Person in den Medien genannt wird, ist zu dem Zeitpunkt 1000 Seiten dick. Er terrorisiert, erpresst und verletzt seine Klassenkameraden, begeht Diebstähle und Einbrüche, knackt Autos, schlägt seine Opfer zusammen, bedroht sie mit Messern und schreit schon mal "Heil Hitler". Die Behörden scheinen machtlos. Mehmet ist in München zur Welt gekommen. Seine Eltern sind schon seit 30 Jahren in der bayerischen Landeshauptstadt. Der Vater arbeitet bei BMW am Band, die Mutter ist Zimmermädchen in einen großem Hotel in der Innenstadt. Redliche Leute, die sich nie etwas zu Schulden kommen ließen, fleißig sind und ihre Steuern zahlen. "Eltern, die ihre Kinder nur ernähren, aber nicht erziehen, sind mitschuld an kriminellen Taten ihrer Kinder", ist die Meinung von Uhl. "Dem traue ich einen Mord zu", sagt der KVR-Referent sogar und forciert die Abschiebung. Auch die Eltern seien ein "Sicherheitsrisiko" wegen ihres Sohnes. Unterstützung in seinem Vorhaben bekommt Uhl von Beckstein, der sich einen Ruf als "radikaler Rausschmeißer" erarbeitet hatte.

Der "Schrecken von Neuperlach"

Die Forderungen von Uhl und Beckstein kommen dem "Aufruf zur Ausländerverfolgung" gleich, sagt der Chef des Ausländerbeirats Cumali Naz. Die Rede ist von "Sippenhaft".

Bei den Zeitungen gehen stapelweise empörte Leserbriefe ein. Während die einen sich über die "Hetzkampagnen gegen ausländische Mitbürger" echauffieren, schreibt ein anderer an die SZ: "Bravo, Herr Uhl! Endlich ein mutiger Politiker. Der Sympathie der schweigenden Mehrheit können Sie sicher sein."

Die Eltern werden von Reportern bestürmt, zeigen sich überfordert und können gar nicht verstehen, wie ihr Nesthäkchen, den sie für "so einen lieben Jungen" halten, schwer kriminell werden konnte. Die Abschiebung sei für Mehmet eine "Katastrophe", sagt die Familie. Schließlich spreche er kaum Türkisch, sondern das urbairische Idiom. Wenn er seinen Opfern droht, sagt er "Willst a Fotzn?"

Doch es gibt einen in München, der mit dem "verwahrlosten Früchtchen" Mitleid hat: Jugendamtsleiter Hubertus Schröer. "Wir geben Mehmet nicht auf. Kinder, und Mehmet ist ein Kind, haben Recht auf Hilfe." Gesagt, getan. Zusammen mit dem Sozialreferenten Friedrich Graffe setzt sich Schröer dafür ein, dass Mehmet drei Monate intensive Betreuung durch zwei Sozialarbeiter des Jugendamtes bekommt. Später wird bekannt, dass der Staat bis zu seiner Abschiebung insgesamt 90.000 DM investiert hat. Mit seiner Aktion macht sich Schröer auch Feinde, bekommt viele Drohungen. Dass er ein "Sozialromantiker" sei, sagt er über sich selbst, doch er gibt nicht auf.

Alles sieht zunächst gut aus. Mehmet scheint gewillt, sich zu bessern. Dann die Katastrophe. Mehmet erleidet im Juli 1998 einen Rückfall. Gemeinsam mit zwei Freunden verprügelt er einen 19-Jährigen wegen einer Zigarette und raubt ihn anschließend auch noch aus. Zu diesem Zeitpunkt ist der junge Türke 14 Jahre alt. Das bedeutet, er ist strafmündig. Er kommt in Untersuchungshaft, muss vor Gericht.

Nach diesem Vorfall sind Mehmets Fürsprecher rar geworden. Selbst die Grünen und die SPD plädieren für die Ausweisung des Jugendlichen. Auch Oberbürgermeister Christian Ude befürwortet sie. Die Stimmung in den Medien und in der Bevölkerung kocht. Steuergelder seien verschwendet worden mit diesem Kriminellen, schreiben aufgebrachte Münchner in den Leserbriefen an die SZ.

Doch auch die Vorwürfe gegen Uhl werden lauter. Er habe sich doch nur parteipolitisch profilieren wollen mit dem Fall, heißt es. Uhl ist inzwischen nicht mehr KVR-Chef, sondern Bundestagsabgeordneter. Es entsteht der Eindruck, der Fall Mehmet hätte Uhl dabei geholfen.

Der "Schrecken von Neuperlach"

Dann geht alles ganz schnell. Mehmet wird überstürzt in die Türkei abgeschoben. Ohne Eltern, nur seine 16-jährige Freundin Jasmin begleitet ihn. Er soll in das Dorf seiner Familie. Der 1000-Seelen-Ort heißt Büyük Yoncali und ist 120 Kilometer westlich von Istanbul. Kaum zwei Wochen in der Türkei, wendet sich für Mehmet plötzlich das Blatt. Der türkische Musiksender "Kral TV" entdeckt ihn als Marketing-Instrument und engagiert ihn als Moderator. Der Sender kann via Satellit in Deutschland empfangen werden. Bei Kral TV hofft man auf Marktanteile in Deutschland durch den berühmten Kleinkriminellen. Man zahlt ihm Unterkunft, einen Chauffeur und angeblich 4000 DM im Monat.

In Deutschland stößt die TV-Karriere von Mehmet auf Unmut. Doch das vermeintliche Glück hält für den jungen Türken nicht lange an. Im April 1999 wird bekannt, dass er auch in der Türkei Probleme hat. Er wird des Diebstahls bezichtigt, verliert seinen Job, kommt mit den Leuten nicht zurecht. Es wird ruhig um Mehmet, bis sein Bleiberecht in Deutschland drei Jahre später, am 16. Juli 2002, wieder verhandelt wird.

Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, dass "der Schrecken von Neuperlach", wie Mehmet in den Medien genannt wird, wieder zurück nach Deutschland darf. Er kommt zurück, macht seinen Hauptschulabschluss. Zunächst scheint er ruhiger und vernünftiger geworden zu sein.

Doch im März 2005 der erneute Rückfall in die Gewalt. Nach einem Streit mit seinen Eltern, verprügelt er diese und droht ihnen, sie umzubringen. Auch vor diesem Vorfall hatte er sie regelmäßig bestohlen, getreten und bedroht. Die Eltern gehen zur Polizei. Mehmet, zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt, wird verhaftet.

Das Jugendgericht München verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Als ihm klar wird, dass die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, setzt er sich zum Jahreswechsel in die Türkei ab. Seither ist Muhlis A. in der Türkei untergetaucht. Die Türkei hat kein Interesse daran den heute 24-Jährigen an Deutschland auszuliefern. Auch die deutsche Staatsanwaltschaft bemüht sich darum nicht.

Sollte Mehmet jemals wieder nach Deutschland einreisen wollen, werde er sofort verhaftet, sagt die Justizbehörde. Nach Abbüßen seiner Haftstrafe erwarte ihn dann wieder die Abschiebung in die Türkei.

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