Vor SPD-Mitgliederentscheid:"Was fehlt, ist die Vision"

Vor SPD-Mitgliederentscheid: "Wir sollten keine schlechten Kompromisse machen", betont Sebastian Roloff. "Da machen wir lieber gar keine."

"Wir sollten keine schlechten Kompromisse machen", betont Sebastian Roloff. "Da machen wir lieber gar keine."

(Foto: Robert Haas)

Einfach so wollen viele Münchner Genossen dem Koalitionsvertrag mit der Union nicht zustimmen. Aber direkt ablehnen? Die SPD ist hin- und hergerissen.

Von Dominik Hutter

Irgendwo auf Seite 70 hat sich Sebastian Roloff in den Finger geschnitten. An der Papierkante des Koalitionsvertrags. Mit dem er wohl nicht mehr gut Freund wird, scherzt der einstige SPD-Bundestagskandidat per Twitter. Am Inhalt dieser speziellen Seite liegt es allerdings nicht, die 70 ist reiner Zufall. Dort beginnt das Kapitel über Finanzmarkt und Digitalisierung, und zumindest den Vereinbarungen zur Digitalisierung kann Roloff auch Positives abgewinnen. Sonst aber gebe es nicht viel zu loben, sagt er. Erwartungsgemäß. Der SPD-Mann hat selbst nicht damit gerechnet, dass er noch zu überzeugen ist vom Sinn einer großen Koalition in Berlin. "Wir sollten keine schlechten Kompromisse machen", findet er. "Da machen wir lieber gar keine."

Vor einigen Wochen war das Roloff'sche Nein noch Konsens in seinem Bundeswahlkreis München-Süd. Da stimmten die Delegierten der dortigen SPD-Ortsvereine klar gegen Sondierungsgespräche mit der Union. Inzwischen liegt ein dicker Koalitionsvertrag vor, die SPD hat einflussreiche Ministerämter abgestaubt - und den Sozialdemokraten ist Ratlosigkeit anzumerken. Von einem klaren Nein zur Groko kann keine Rede mehr sein, von einem überzeugten Ja sind die Genossen aber ebenso weit entfernt, wie am Donnerstagabend bei einer Diskussionsveranstaltung des Bundeswahlkreises im Bürgersaal Fürstenried deutlich wird. "Ich bin hin- und hergerissen", sagt Stadtrat Jens Röver. Es gebe Licht und Schatten im Koalitionspapier.

"Ich kann nicht sagen, ob ich dafür oder dagegen bin", gibt auch der Landtagsabgeordnete Florian von Brunn zu. Die vereinbarten Inhalte reichten eigentlich nicht aus. Nur: Was ist die Alternative? Mit Hurra in die Opposition? Die kennen Bayerns Sozialdemokraten zur Genüge. "Wir regenerieren uns in Bayern seit mehr als 50 Jahren", lästert der einstige SPD-Landtagsabgeordnete und Münchner OB-Kandidat Max von Heckel. Und: "Glaubt ihr wirklich, dass Christian Lindner gerechtere Steuern durchsetzt als Olaf Scholz?" Scholz ist bei den Münchner Genossen nicht sonderlich beliebt, das merkt man. Aber er ist immerhin ein Sozialdemokrat.

Eine echt schwierige Entscheidung stehe da gerade an, seufzt von Brunn. So schwierig, dass ihm kürzlich schon jemand im Gasteig sein Mitleid bekundet habe. Völlig zu Recht, wie der Abgeordnete findet. Stefanie Krammer, die Landesvorsitzende der Jusos, sieht es so: "Wir lassen uns treiben, sind Getriebene."

Es gilt aber auch viele Aspekte abzuwägen. Einmal die politischen Inhalte der Vereinbarung mit der Union. Strategische Fragen. Die SPD ist laut Umfragen auf weniger als 20 Prozent abgesackt und hat eigentlich nicht vor, bei künftigen Wahlen unter "Sonstige" genannt zu werden. Das spricht für Selbstreflexion, Einkehr. Und dann gibt es noch die Personalien. Viele Minister, das ist schön, und auch für Andrea Nahles als neue SPD-Chefin gibt es viel Zustimmung.

Der einstige Superheld Martin Schulz hingegen gilt inzwischen als klarer Minuspunkt. Mit dem scheidenden Parteichef, das wird an diesem Abend sehr deutlich, wird die SPD-Basis wohl nie mehr warm. Von gravierenden Glaubwürdigkeitsproblemen ist die Rede und von gebrochenen Versprechen - angesichts seines Wunschs, Außenminister zu werden, den er am Freitag dann aber zurückzog.

Auf keinen Fall darf aus nackter Angst zugestimmt werden

Das gilt auch außerhalb des Wahlkreises München-Süd. Alt-OB Christian Ude hat bereits am Mittwoch auf Facebook die Berliner Personalquerelen deutlich kritisiert: Wie es denn sein könne, dass der beliebteste Sozialdemokrat, Sigmar Gabriel, seinen Posten für den räumen muss, der diese Aufgabe für sich öffentlich ausgeschlossen hat? Der Bundestagsabgeordnete Florian Post sprach gar von "Blödheit" und davon, dass der Karrieredrang der Berliner für die SPD von großem Schaden sei.

Dass die SPD eigentlich Sehnsucht nach einer visionären Parteispitze hat, merkt man, als im Bürgersaal die Rede auf Willy Brandt kommt. Wenn man so einen jetzt in den eigenen Reihen hätte, so schwärmt ein Genosse, wäre das Ja zum Koalitionsvertrag eine klare Sache. Brandt habe auch in der Großen Koalition von 1966 Kante gezeigt, daran erinnert von Heckel - in puncto Ostverträge etwa. Das vermissen die Münchner Genossen an ihrem Spitzenpersonal in Berlin: Klar auszusprechen, dass ein Koalitionsbeschluss nur einen Kompromiss darstellt und dass eine SPD-Alleinregierung anders entschieden hätte. Die Große Koalition von 1966 ist für von Heckel aber auch ein Beispiel dafür, wie man sich täuschen kann. "Ich war damals strikt dagegen", sagt er, "aber das war ein großer Fehler." Ebnete das ungeliebte Bündnis doch den Weg für die Kanzlerschaft Brandts und letztlich für die SPD-Regierungen bis 1982.

In der schnöden Jetztzeit geht es weniger um Ostpolitik als um Mieten, Verkehr und soziale Gerechtigkeit. Auch im Koalitionsvertrag mit der Union, bei dessen Bewertung sich die Genossen aus dem Münchner Süden uneins sind. Wolfgang Simeth, der Vorsitzende des Bundeswahlkreises, hat die mehr als 170 Seiten mit den Beschlüssen des eigenen Parteiverbands verglichen. Sein Fazit: Was die Münchner wollen, wurde kaum berücksichtigt. Oder es ist wachsweich formuliert.

Isabella Fiorentino von der Haderner SPD findet, dass die versprochenen 8000 Pflegekräfte gut klingen - "für München". 500 Millionen pro Jahr für den Wohnungsbau? "Super - für München". Doch die Zahlen beziehen sich auf ganz Deutschland. Es ist nicht alles Gold, was auf den ersten Blick glänzt, will Fiorentino damit sagen. Gilt für den Verkehr genauso, assistiert von Brunn. Eine Milliarde, das reiche ja nicht einmal für eine einzige U-Bahn-Linie in München.

"Ich finde Dinge, die ich durchaus interessant finde", sagt hingegen die Bezirksausschusspolitikerin Birgit Knoblach. "Was fehlt, ist die Vision." Das geht vielen so, der frühere Stadtrat Gerd Baumann schlägt dafür die atomwaffenfreie Welt vor. Es gehe eben nicht nur um die Kompromisse mit der Union, schließt von Brunn aus dieser Debatte. Sondern auch darum, wie die SPD für sich bestimmt, welche Themen ihr wichtig sind, um diese dann mutig nach außen zu vertreten. Für Roloff ist entscheidend: "Wir sollten uns nicht klein machen." Auf keinen Fall dürfe es eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag aus nackter Angst vor Neuwahlen geben.

Die Genossen werden noch viel Gelegenheit zum Diskutieren haben, bis Anfang März die Entscheidung fällt. Für nächste Woche lädt der Vorstand der Münchner SPD zur großen Debatte, Ende Februar kommt SPD-Besuch aus Berlin. Immerhin eine Frage ist geklärt: Geldnot herrscht nicht, berichtet in Fürstenried der Schatzmeister. Für einen neuerlichen Wahlkampf würde es reichen.

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