Vor dem Prozess gegen die U-Bahn-Schläger:"Nicht einmal Jesus könnte das verzeihen"

Tritte und Schläge, dreifacher Schädelbruch: Der pensionierte Schulleiter Hubert N. fragt sich bis heute, warum ihn die beiden U-Bahn-Schläger töten wollten.

Bernd Kastner

Der Tag, an dem Hubert N. einen neuen Namen bekommen sollte, war der 20. Dezember 2007, ein Donnerstag. Es war schon spät, N. hatte eine Weihnachtsfeier in seiner alten Schule besucht, und jetzt war er auf dem Heimweg. Er setzte sich in den letzten Wagen der U4, da sitzt er immer, weil der gleich bei seinem Ausgang zum Halten kommt. Arabellapark, Endstation.

Vor dem Prozess gegen die U-Bahn-Schläger: Hubert N. hat den brutalen Überfall im U-Bahn-Sperrengeschoss wie durch ein Wunder überlebt. Den beiden jugendlichen Tätern kann er bis heute nicht verzeihen.

Hubert N. hat den brutalen Überfall im U-Bahn-Sperrengeschoss wie durch ein Wunder überlebt. Den beiden jugendlichen Tätern kann er bis heute nicht verzeihen.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Hubert N. öffnet die Tür seines kleinen Appartements und bittet in eine bunte Welt, in die Welt eines Junggesellen. Durch die Vorhänge im 70er-Jahre-Design scheint die Sonne, das Sofa ist ein Paradies aus Streifen, rot und rosa, gelb und orange. Auf dem Schrank stehen ägyptische Büsten, er liebt Ägypten. N. setzt sich auf die Couch.

Zwei Stunden lang wird er so sitzen und erzählen, beginnend damit, dass ihn alle Welt einen Rentner nenne, was aber nicht stimme. Er sei Pensionär, weil er ein Leben lang Beamter war, Lehrer, Schulleiter, zuletzt in der Hermann-Frieb-Realschule in Schwabing. Das mit dem Rentner ist genauso falsch wie mit seinem Namen, weil er immer der Hubert war. Erst an jenem Abend kurz vor Weihnachten ist er zu Bruno geworden, im Alter von 76 Jahren. Herr N. lacht.

Dreifachen Schädelbruch überlebt

Einen agilen Eindruck macht er, und das ist, man muss dieses große Wort gebrauchen, ein Wunder. Er hat einen dreifachen Schädelbruch überlebt. N. sagt, es geht ihm gut, mehr oder weniger. Drei oder vier Wochen danach war schon alles verheilt, äußerlich zumindest. Innen drin aber ist was kaputt gegangen. Morgens vor allem, beim Aufstehen, müsse er erst mal auf dem Bett sitzen bleiben, zehn, fünfzehn Sekunden lang, dann erst kann er in die Senkrechte. "Wenn ich zu schnell aufstehe, wackelt die ganze Welt."

Noch unangenehmer aber ist die Sache mit der Konzentration. N. liebt das Lesen und das Schreiben, seither aber tut er sich schwer mit der Konzentration. Früher hat er ein Buch an einem Stück gelesen, am liebsten Krimis und Western. Heute muss er es nach ein paar Seiten zuklappen. Im Krankenhaus, er konnte die Augen noch nicht recht öffnen, so geschwollen waren sie, hat er die Ärzte reden hören von seinen Verletzungen. Spätestens da habe er gewusst, wie knapp es war.

"Macht das bitte nicht"

Bruno N., unter diesem Namen kannte ihn da schon die ganze Republik, fuhr wenige Tage später mit seinem neunjährigen Patenkind in den Schwarzwald, weil er dem doch einen Snowboardkurs versprochen hatte. Die meiste Zeit habe er natürlich im Bett gelegen. Dann brachte er den Buben nach Darmstadt zu den Eltern; und dort, im Hessischen, habe N. gemerkt, was der Roland Koch aus seinem Fall gemacht hatte.

"Nicht einmal Jesus könnte das verzeihen"

Zurück in München, als N. aus dem Zug stieg, sah er sich auf Plakaten. Hätte Josef Schmid, der OB-Kandidat der CSU, ihn um Erlaubnis gebeten, er hätte gesagt: "Macht das bitte nicht." Dass Politiker das Thema der Jugendkriminalität aufgreifen, das sei richtig und wichtig, " aber man kann das Thema nicht in den Mittelpunkt eines Wahlkampfes stellen".

Und ja, sagt N., er fände es okay, wenn sie seine Fast-Totschläger in ihre Herkunftsländer zurückschicken würden. Aber das Problem als solches löse man damit nicht. Bildung, nur über Bildung komme man weiter, angefangen damit, dass man die jungen Migranten zwingen müsse, Deutsch zu lernen. Aber wenn es ans Abschieben gehe, dann müsse man jeden Fall individuell prüfen.

"Deutsches Arschloch! Deutsches Schwein!"

Es war gegen halb elf, als die U4 am Max-Weber-Platz hielt. Zwei junge Männer stiegen ein, zündeten sich eine Zigarette an, setzten sich neben N., dazwischen nur der Gang. N. sagt, die beiden hätten gar nicht rauchen können, "die haben nur gepafft". Der eine gab die Zigarette dem anderen, sie qualmten in N.s Richtung. Das ärgerte N., und dann sagte er diesen einen Satz: "In der U-Bahn wird nicht geraucht." Mehr nicht.

Hubert N. blickte in Gesichter, die er als "hasserfüllt" beschreibt. Und dann hörte er: "Deutsches Arschloch! Deutsches Schwein!" Einer spuckte, erwischte ihn, der andere versuchte es auch, "aber der war in schlechter Form". Hubert N. setzte sich weg, ein paar Reihen weiter, holte sein Sudoku-Rätsel aus dem Rucksack, das er immer dabei hat.

Prinzregentenplatz, Böhmerwaldplatz, das Abteil leerte sich. Die beiden rauchenden Männer blieben sitzen, N. auch. Endstation. Hubert N. packte seinen Rucksack, verließ die U-Bahn und nahm seinen Aufgang. Vor ihm ein älteres Paar, sie im Pelzmantel, er im Pelzmantel. N. sagt, er nehme ihnen nicht übel, dass sie nicht stehen geblieben sind. Was dann passierte, habe er erst später mitbekommen, im Fernsehen, als die Bilder dieser Videokamera immer und immer wieder liefen. Tritte. Schläge. Gegen den Kopf. Gegen den Unterleib.

Was würde ein Held jetzt machen?

Wären diese Bilder nicht, wäre er einer von vielen, bei denen nur das Opfer berichten kann. Im Arabellapark aber ist alles dokumentiert. Die Fotografen belagerten in den Tagen danach N.s Haus, einer habe einer Nachbarin Geld geboten, damit die ein Foto vom Opfer mache. Bald wurden die ersten aktuellen Aufnahmen des Opfers gedruckt, und neulich, im Hotel in Ägypten, erkannten ihn sogar ein paar Frauen und liefen ihm hinterher: "Sind Sie nicht der Mann, der immer in der Zeitung ist?"

"Nicht einmal Jesus könnte das verzeihen"

Er sah, da lag er schon am Boden, ein Mädchen im Zwischengeschoss, mit großen Augen beobachtet es die Szene. "Hau ab!", wollte Hubert N. rufen. "Die bringen dich auch um!" Seine Stimme aber versagte. Nur ein paar Sekunden blieb N. zwischen den Schlägen und Tritten bei Bewusstsein. Zwei Gedanken, zwei Fragen schossen ihm durch den Kopf: Die wollen mich totschlagen - warum eigentlich? Und dann habe er an seine Krimis gedacht und sich gefragt: Was würde ein Held jetzt machen?

Verzeihen kann er den Tätern nicht. Wenn sie sich entschuldigten dafür, dass sie ihm auch noch den Rucksack geklaut haben und die Kamera mit den Fotos von der Weihnachtsfeier, ja, das könnte er annehmen. Aber dass sie ihn fast totgeschlagen haben? Dem griechisch-orthodoxen Erzpriester Apostolos Malamoussis, der N. als erster zu Hause besuchte, habe er gesagt: "Nicht einmal Jesus Christus könnte das verzeihen." Da habe der Priester aber den Kopf geschüttelt.

Am Montag beginnt der Prozess

Es ist dieser Hass, den N. in den Augen der beiden gesehen hat, und der ihm nicht aus dem Kopf wolle. Könne man von denen nicht ein wenig Dankbarkeit gegenüber ihrer neuen Heimat erwarten, fragt er, schließlich profitierten sie von deutschen Sozialleistungen. Hätte er geschwiegen in der U 4, es hätte nichts geändert, da ist er sicher. "Die wollten jemanden zusammenschlagen."

In einer Woche, am Montag, beginnt der Prozess gegen die beiden Täter, der Jüngere ein Grieche, der Ältere ein Türke, 17 und 20 Jahre alt zur Tatzeit. Wegen versuchten Mordes sind sie angeklagt. N. sagt, er freue sich auf den Prozess gegen die Täter, nicht weil er auf eine harte Strafe, auf Rache aus sei, nein, darüber mache er sich keine Gedanken, die Richter werden das schon wissen. Er freue sich, weil er dann seinen Retter treffen werde, jenen Mann, der ihm drei Fragen stellte, als er am Boden lag.

Hubert N. weiß nicht, wie lange er bewusstlos war. Dann hörte er die freundliche Stimme eines Mannes: Kann ich Ihnen helfen? Soll ich die Polizei rufen? Soll ich den Rettungsdienst holen? Ja bitte. Bald war der erste Polizist da, er fragte Hubert N. nach seinem Namen. Wieder versagte seine Stimme, aber es gelang ihm, seinen Geldbeutel mit dem Personalausweis aus der Hose zu ziehen. Der Polizist notierte "Bruno Hubertus N.", und so wurde aus Hubert Bruno.

Wie hätte der Beamte wissen sollen, dass Bruno der Name des Vaters war, und dass es in Oberschlesien, wo N. herstammt, guter Brauch ist, diesen Namen zu vererben und an die erste Stelle zu setzen, dass das Kind dennoch aber alle nur Hubert rufen. Das Gericht hat Bruno N. als Zeugen einbestellt, und der Mann, der ein so genauer Lehrer war, sagt: "Die haben eigentlich meinen Vater eingeladen."

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