Süddeutsche Zeitung

Von ungemütlichen Themen:Grant und Gemütlichkeit? Künftig was fürs Heimatmuseum

Das Münchner Lebensgefühl ist legendär. Aber wohin geht die Reise? Welche düsteren Gedanken sich Innegrit Volkhardt und Konstantin Wecker machen - und welche Hoffnung Kardinal Marx für das Vaterunser in der Post-Apple-Ära hat. Die düsteren Gedanken von Kardinal Marx, Innegrit Volkhardt und Konstantin Wecker über die Stadt im Jahr 2050.

Von Karl Forster

Es gibt eine hübsche Zeichnung von F. K. Waechter, die trägt den Titel "Frauenfreigehege Dingolfing". Sie stammt aus dem Jahr 1978 und nimmt, so eine mögliche Interpretation, aus der damaligen Sicht der Dinge eine Zukunft voraus, in der es keine Frauen mehr gibt, oder nur noch Restbestände, die dann zum Bestaunen auf einer Art Affenfelsen - pardon, Äffinnenfelsen - zur Betrachtung freigegeben werden.

Heute, also 38 Jahre nach F. K. Waechters bösem Strich, kämpfen die Frauen immer noch um gleiche Bezahlung, gegen sexuelle und auch weniger sexuelle Ausbeutung, mit einer Quote gar um ein paar Prozentpünktchen mehr Präsenz in den Führungsetagen. Es hat sich also nicht so arg viel geändert in diesem Zeitraum, zumindest was die Rolle der Frau in der Gesellschaft angeht.

Wenn man, was hier nun passieren soll, sich um die Zukunft des "Münchner Gefühls" zu kümmern hat, so geht es um ein paar Parameter wie "Gemütlichkeit" und "Grant" und "Bier" und "Wiesn"; aber auch um die Veränderung der Gesellschaft an sich bis zum Jahr 2050.

Wecker verbannt die Gemütlichkeit ins Heimatmuseum

Ob hierzu Kardinal Reinhard Marx Interessantes beizutragen hat? Oder Konstantin Wecker, der ein Lied schrieb über die Maderl, die "wie Äpfel ausschaugn"? Oder Innegrit Volkhardt, als Chefin des Hotels Bayerischer Hof eine der wenigen Spitzenmanagerinnen der Stadt? Das Münchner Lebensgefühl als Zukunftsspekulation bietet ein weites Feld. Aber schon die Frage, wie es dann um die Münchner Gemütlichkeit bestellt ist, zeigt: In diesem Feld liegt einiger Zündstoff. Schon deswegen, weil es mit Gerhard Jussenhoven ein Kölner Komponist war, der einer alten Traditionsmelodie die Form zur tausendfachen Wiederholung gab: "Ein Prosit der Gemütlichkeit" stammt vom Rhein, nicht von der Isar.

Nimmt man einen heute weltweit bekannten Stützpunkt dieser ganz besonderen Gemütlichkeit - nein, nicht das Oktoberfest, sondern den Chinesischen Turm -, dann klingt eine diese 1792 eröffnete Sehenswürdigkeit betreffende Prognose gar nicht so gemütlich. Konstantin Wecker, Barde und Dichter, aber auch Mahner und Warner, malt ein Bild, in dem dieser Turm der Gemütlichkeit im Jahr 2050 einer klitzekleinen Minderheit vorbehalten sein könnte: jenem einem Prozent von Deutschlands Superreichen, die dann 99 Prozent des Eigentums besitzen und sich zur Jahrestagung am Chinesischen Turm treffen, um über die neuesten Tricks zur Gewinnmaximierung zu referieren.

Wecker: "Der Rest des Volkes wird dann bestenfalls mit panem et circenses abgespeist und ruhig gehalten, was aber nur bedingt gelingt; denn immer wieder flammen Aufstände und Rebellion auf." Und des Münchners typische Attribute Grant und Gemütlichkeit? Bekommen vielleicht einen Platz im Heimatmuseum. Grant und Gemütlichkeit hängen dann möglicherweise neben Waechters "Frauenfreigehege".

Düstere Visionen von Innegrit Volkhardt

Während also Weckers düstere Ahnung dahin geht, dass es sich die Bonzen der Republik am China-Turm gemütlich machen, sieht Innegrit Volkhardt die Zukunft einer schon lange in ihrem Haus beheimateten internationalen Konferenz auch nicht viel positiver. Diese hieß einst Wehrkundetagung, dann Münchner Konferenz für Sicherheit und Ordnung und aktuell Münchner Sicherheitskonferenz. Und wenn man Innegrit Volkhardt dezent das Wort "Friedenskonferenz" nahebringen will als Synonym für den Weltenzustand im Jahr 2050, lehnt sie strikt ab und blickt dabei recht bedrückt drein: "Ich glaube nicht, dass die Zukunft eine friedlichere und der Mensch ein freundlicherer sein wird."

Sie denkt laut darüber nach, dass künftige Auseinandersetzungen auf der Welt, die dann auf der im Bayerischen Hof stattfindenden Konferenz diskutiert werden würden, allesamt aus Fremdeinflüssen resultierten; dass also, wenn man Frau Volkhardts Gedanken richtig verstanden hat, künftige Kriege - noch mehr als heute schon - Stellvertreterkriege sein würden. "Ich fürchte, da haben wir das Rennen um eine bessere Zukunft schon verloren."

Das haben alle drei Gesprächspartner zum Thema "Zukunft des Münchner Lebensgefühls" gemeinsam: dass sie sich immer wieder von der Gemütlichkeit argumentativ verabschieden, sich hinwenden zu so ungemütlichen Themen wie Stadtflucht, Pegida oder Verlust der Perspektiven.

Für Marx liegt die Zeit des Christentums vor uns

Was allerdings Gott angeht, in dessen Auftrag Kardinal Reinhard Marx aus Geseke in Nordrhein-Westfalen seit 2008 im Erzbistum München und Freising wirkt, so ist der Kirchenmann überraschend optimistisch. "Die große Zeit des Christentums liegt noch vor uns", lautet sein Mantra. Auch wenn ihn gerade die europaweite Jugendstudie mit dem Titel "Generation What?" des renommierten Sinus-Instituts überrascht hat, laut der nur ganze zwei Prozent der 18- bis 34-Jährigen religiösen Institutionen voll und ganz vertrauen.

Konstantin Wecker, obwohl von dieser Altersgruppe als 1947 Geborener weit entfernt, hat eine ähnliche Skepsis schon vor vielen Jahren zum Kirchenaustritt bewogen. Heute allerdings, angesichts des ungewöhnlichen Auftretens des derzeit amtierenden Papstes Franziskus, denkt sogar der Sänger wieder über die katholische Kirche nach und kommt zu dem Schluss, dass, sollte sich auf dem Heiligen Stuhl nach Franziskus dessen Kirchenpolitik fortsetzen, er möglicherweise wieder über den Wiedereintritt nachdenke. Macht dann aber einen Nachsatz, der den guten Willen doch eher ins Unwahrscheinliche hebt: "Wenn dann eine Frau Päpstin ist."

Etwas weniger kühn, dafür eher technischer Art sind die Spekulationen der Hotelmanagerin Volkhardt. Ja, Hotels im Segment der drei oder vier Sterne würden sehr bald schon in weiten Bereichen mit Robotern arbeiten, beim Putzen, im Service, vielleicht sogar beim Kochen sei das denkbar. Nicht nur, weil es kostengünstiger sei, mit Maschinen zu kooperieren, sondern weil man bald vielleicht die Menschen nicht mehr finde, die solche Arbeiten verrichten können. Oder wollen.

Doch auch in Fünf-Sterne-Häusern werde diese Technik Einzug halten, zumindest bei gewissen Dienstleistungen. "Aber da gibt es dann doch Bereiche, die kein Computer, kein Roboter ausfüllen kann. Ich denke an die Künste eines Concierge. Vernetzungen in alle Lebensbereiche, wie sie hier gefordert sind, kann kein Roboter bieten. Wenn es zum Beispiel darum geht, dass man noch zwei Karten für die ausverkaufte Premiere an der Staatsoper organisieren muss. Sagen Sie das mal einem Roboter!"

Andererseits war sie seit jeher von Science-Fiction-Filmen abgeschreckt, in denen bereits vor Jahrzehnten Roboter gegen Roboter kämpften und man sich per Knopfdruck in den Urlaub beamen lassen konnte. "Vieles wird schon heute Realität. Nur das mit dem Beamen, das kann ich mir nicht so recht vorstellen."

Doch dass, wegen dramatischer Stadtflucht, ihr Haus in einigen Jahrzehnten eine letzte Fluchtburg Münchner Lebensgefühls sein könnte, also dem alten Hotelslogan von der "zweiten Heimat" allzu sehr Folge leisten müsse, das kann sie sich gut vorstellen. Zwar findet Volkhardt die Idee, zur Wahrung des Heimatgefühls bis 2050 auf dem Dach ihres Hauses eine Art Mini-Hofbräuhaus zu errichten, etwas zu kühn. Aber sie plant, den Palais-Keller großzügig zu restaurieren, weil dort bayerische Schmankerl weiterhin zu Hause sein sollen. "Es muss ja nicht immer Zwei-Sterne- oder polynesische Küche sein."

Natürlich sieht sie, dass die Vielfalt der Innenstadt mit Krämerläden, Einzelhandel, Schuhwerkstätten und richtigen Bäckereien im Siechtum steht. Doch sie vertraut auf das Traditions- und Verantwortungsbewusstsein gestandener Münchner Großfamilien und Institutionen, dem Münchner sein Lebensgefühl zu erhalten und nicht der Profitgier zu opfern.

Dass Innegrit Volkhardt hier auch auf ihren "geschätzten Nachbarn", das bischöfliche Palais, verweist, ist kein Zufall. Erstens mag sie offensichtlich dessen derzeitigen Bewohner Kardinal Reinhard Marx. Zweitens herrscht auch dieser über ein respektables Immobilienreich, das, wie er sagt, ihm eine aus der Vergangenheit gewachsene Verpflichtung sei. Und zwar dahin gehend, dass man den Gläubigen zeigen müsse, dass man mit dem Reichtum der Kirche Positives anfange. Die Kirchensteuer jedenfalls sieht er bis 2050 nicht fallen, er nennt sie nur nicht Steuer, sondern "einen Mitgliedsbeitrag" der Gläubigen.

Das Vaterunser wird auch in der Post-Apple-Ära gebetet werden

Überhaupt scheint Kardinal Marx nicht allzu sehr von Zukunftsangst geprägt. Der Glaube, sagt er, werde weiterhin zum Lebensgefühl nicht nur der Münchner gehören. Und auf die Frage, ob die doch etwas ältlich anmutende Sprache der Liturgie gerade für potenzielle Neueinsteiger nicht zu sehr nach "Voodoo" klinge, wie es einst ein Besucher bei einer Firmung mit Kardinal Marx in der Münchner Pfarrgemeinde Leiden Christi formulierte, da lacht er und meint nur: Der Mensch erwarte hier nicht die Wiederholung des Alltags, sondern eine gewisse Konstanz und Poesie, ähnlich wie in der Literatur. "Außerdem: Vielleicht sind 2050 die Bildzeitung, der Spiegel und Apple schon vergessen. Aber das Vaterunser wird dann immer noch gebetet."

Und sonst? In summa lässt sich sagen, dass, sollte die Zukunftseinschätzung des Kardinals eintreffen, vieles bleibt, wie es ist. Dass es also auch 2050 die ehelose Lebensform der Priester gibt, weil diese eben auch eine Art von Freiheit sei und man personelle Notsituationen nicht lösen könne, in dem man sie einfach abschaffe; dass Frauen in Kirche und Gesellschaft ja bis heute schon viel erreicht hätten, und dass überhaupt der Satz gelte: Niemand steht über dem anderen.

Was die derzeit grassierende Angst vor dem Fremden an sich angehe, sieht Marx gerade die Kirche mit ihrer Botschaft ganz vorn im Kampf um ein tolerantes Lebensgefühl. Das zeige sich in einem Satz, der wie eine religiöse Variante des Grundgesetzes klingt: Jeder Mensch, egal welcher Hautfarbe, Herkunft und Neigung, ist ein Geschöpf Gottes.

Und hat, so dieser Mensch in München lebt, ein Anrecht darauf, dass ihm das hiesige Lebensgefühl erhalten bleibt. Zumindest bis 2050. Und sei es auch nur als Artefakt in Heimatmuseum. Dort ist dann sicher auch noch Platz für ein Faksimile von "Ein Prosit der Gemütlichkeit".

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Quelle:
SZ vom 12.11.2016/bica
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