Volksbegehren G8/G9:Angst vor dem Chaos

Acht oder neun Jahre Gymnasium: Das Volksbegehren ist in vollem Gange. Doch eine Wahlfreiheit würde Münchens Schulen überfordern - sie haben zu wenig Platz. Inzwischen wird der Ruf nach einer ganz anderen Lösung immer lauter.

Von Melanie Staudinger

Gestresste Schüler, überforderte Lehrer und entnervte Eltern: Für viele ist an dieser Situation die überstürzte Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) im Jahr 2003 schuld. Wissenschaftliche Belege gibt es für diese Annahme bisher nicht. In keiner Studie konnten Experten bislang nachweisen, dass Schüler im achtjährigen Gymnasium tatsächlich gestresster sind als in dessen neunjähriger Vorgängervariante. Auch sind kaum Unterschiede feststellbar, was die Studierfähigkeit anbelangt. Studenten mit G8-Abitur schneiden in Untersuchungen genauso gut ab wie ihre Kollegen aus dem G9.

Pädagogisch ist der Sinn des Volksbegehrens der Freien Wähler also durchaus umstritten. Weitgehende Einigkeit herrscht unter Münchens Gymnasialdirektoren und dem zuständigen Bildungsreferat der Stadt allerdings, dass es noch enger wird an den zumeist ohnehin schon vollen Schulen, wenn G8 und G9 gleichzeitig angeboten werden müssten.

Räume und Lehrer fehlen

Sollten die Freien Wähler mit ihrer Kampagne Erfolg haben, würden nach Angaben des Bildungsreferats etwa 150 Räume an den 38 öffentlichen Gymnasien in der Landeshauptstadt fehlen. Das entspricht der Größenordnung von drei bis vier neuen Schulen, wie eine Sprecherin erklärt. Die Räume, die früher für die 13. Klasse zur Verfügung standen, werden längst anders genutzt: Manche Schulen haben dort neue Klassen untergebracht oder halten dort die Differenzierungsstunden, in denen Klassenverbände geteilt und getrennt unterrichtet werden.

Dieser zusätzliche Bedarf würde Rathaus und Kommunalpolitik - für Schulbauten ist die Stadt gesetzlich zuständig, egal ob sie oder der Freistaat die Schule betreibt - vor ein großes Problem stellen. Denn schon jetzt gibt es zu wenig Platz an den Gymnasien. Mehr als die Hälfte eines jeden Jahrgangs wechselt nach der Grundschule dorthin. Dazu kommt der Bevölkerungszuwachs. Prognosen zufolge soll die Schülerzahl bis 2030 um ein Fünftel steigen, das wäre ein Plus von knapp 7000 Schülern. Insgesamt sieben neue Gymnasien sollen laut der aktuellen Schulplanung gebaut werden - ohne den Mehrbedarf, der durch das G9 entstehen würde.

Mit Erweiterungen tut sich die Stadt gerade in zentralen Lagen schwer, weil es dort schlicht zu wenige Grundstücke gibt. Wie schwierig so ein Projekt sein kann, hat die Sanierung des Wilhelmsgymnasiums in der Thierschstraße gezeigt. Die Schule muss für die Bauzeit komplett ausgelagert werden, aufnehmen wollte sie aber niemand. Die Stadt musste sich gegen großen Protest durchsetzen, bis ein Quartier auf dem Gelände der Tivoli-Tennisanlage gefunden wurde. Von Mehrkosten oder dem schwierigen Ausbau der Schulen sprechen die Befürworter des Volksbegehrens allerdings nicht.

Der Wunsch: Ein reformiertes G8

Welch Chaos das gleichzeitige Angebot von G8 und G9 an der einzelnen Schule anrichten würde, kann Reinhard Duetsch ganz gut beschreiben. Der Direktor des Heinrich-Heine-Gymnasium in Neuperlach hat das Szenario einmal durchdacht. "Ich habe ja jetzt schon von der achten Klasse an faktisch vier Zweige", erzählt er. Zwei davon werden im naturwissenschaftlich-technologischen Bereich unterrichtet, einmal mit der Sprachenfolge Englisch-Französisch und einmal mit Englisch-Latein.

Die anderen beiden Klassen sind sprachlich ausgerichtet, ebenfalls jeweils mit Englisch-Französisch oder Englisch-Latein. "Will ich dieses Angebot aufrechterhalten, müsste ich ja doppelt so viele Klassen anbieten", sagt Duetsch. Und das in einer Schule, die mit momentan knapp 900 Schülern ohnehin heillos überfüllt ist. Problematisch könnte es auch mit den Fachräumen werden. Diese müssten auch jetzt schon bis 16 Uhr belegt werden, weil sie sonst nicht ausreichten. Im G8 ist das kein Problem, weil Nachmittagsunterricht ohnehin vorgesehen ist.

Alles am Vormittag

In der Halbtagsschule G9 allerdings müssten diese Stunden eigentlich alle auf den Vormittag verteilt werden. "Unmöglich", sagt Duetsch. Können Biologie- und Chemie-Stunden allerdings erst nachmittags stattfinden, muss der Unterricht in einzelnen Klassen später beginnen, etwa erst in der dritten Stunde. "Dann wiederum haben wir ein Problem mit berufstätigen Eltern, die sich auf feste Schulzeiten verlassen", sagt der Schulleiter.

Für Duetsch und viele seiner Kollegen steht fest: Sie würden lieber beim achtjährigen Gymnasium bleiben - auch wenn der bayerische Philologenverband kürzlich eine Befragung veröffentlichte, wonach 80 Prozent der Bürger im Freistaat eine umfassende G9-Reform bevorzugen. "Ich würde mir wünschen, dass die Energie, die gerade in einen möglichen Systemwechsel gesteckt wird, in die Verbesserung des jetzigen Angebots fließen würde", sagt er. Schulen bräuchten Stabilität und Ruhe, um sich gut entwickeln zu können. "Es ändert sich immer wieder so viel und es wird so viel diskutiert, dass wir gar nicht richtig planen können", sagt er.

Stadtschulrat Rainer Schweppe sieht das ähnlich. Es sei durchaus sinnvoll, das G8 mit einer modernen Ganztagsstruktur zu verbinden, was bisher nicht gelungen sei. Er sehe hier durchaus Entwicklungsbedarf - und möglicherweise auch eine Rückkehr zum G9. Was der Stadtschulrat allerdings ablehnt, ist ein paralleles Angebot von acht- und neunjährigem Abitur an einer Schule. Das sei organisatorisch nicht zu leisten. Auch aus Sicht der Direktoren müssten sich die Gymnasien dann wohl eher spezialisieren: Das würde G8 an den einen Schulen und G9 an den anderen bedeuten - und damit eine noch kompliziertere Schulstruktur.

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