Es verschwindet oft genauso schnell, wie es aufgetaucht ist, und inszeniert sich gerne als Geheimtipp unter Eingeweihten: das „Pop-up“. In München steckt hinter diesem Trendbegriff meist einfach die weniger hip klingende „Zwischennutzung“. Auch das Pop-up „Nadir Güllü“ auf dem Viktualienmarkt war ursprünglich als Zwischennutzung gedacht. Doch die Baklava-Manufaktur aus Istanbul konnte ihr Gastspiel in einen festen Marktstand verwandeln. Vor wenigen Tagen hat Nadir Güllü mit dem Soft Opening begonnen.
Als das Pop-up vergangenen Herbst nur wenige Meter entfernt vom heutigen Stand an den Start ging, waren sämtliche Vorräte binnen weniger Stunden ausverkauft. Erst wollte Murat Güllü Ende Dezember abreisen, dann Ende März, schließlich gar nicht mehr. „Es lief besser als erwartet“, sagt er im Gespräch mit der SZ. Der 36-Jährige leitet das Familienunternehmen namens Nadir Güllü in sechster Generation und ist im August aus Istanbul angereist, um die Standeröffnung zu begleiten.

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Bei seinem ersten München-Besuch habe es Güllü überrascht, wie offen der hiesige Markt noch für hochwertiges Baklava sei. „Ich wusste, dass schon seit Jahrzehnten viele Türkinnen und Türken hier leben, und dachte, dass es bereits an jeder Ecke Baklava geben müsse.“ Aber er habe festgestellt, dass die türkische Community es vor allem untereinander verschenke und verkaufe, und das auch nur in den türkischen „Zonen“. „Außerdem machen sie ihr Baklava ein wenig anders als wir. Für Deutsche ist es oft zu süß. Gutes Baklava sollte aber nicht so süß sein.“
Das klassische Pistazien-Baklava von Nadir Güllü besteht aus 40 Teigschichten, die jeweils auf 0,1 Millimeter ausgerollt werden – so hauchdünn, dass man durch jede Schicht hindurch noch Zeitung lesen könnte, sagt Güllü. So kann sich der Teig gar nicht übermäßig mit Sirup vollsaugen. Dazu stellt Güllü sein Baklava ausschließlich mit türkischem Ghee, einer mehrfach geklärten Butter, her und füllt es mit Pistazien aus Gaziantep, die im Einkauf 120 Euro pro Kilo kosten und zu den besten der Welt gehören sollen. Diese Pistazien machen 30 Prozent des Baklavas aus, dementsprechend stolz ist sein Preis. Ein Stück wird auf dem Viktualienmarkt 3,50 Euro kosten.
Neben dem klassischen Pistazien-Baklava wird es auch Varianten mit Walnüssen, Haselnüssen und Schokolade geben. Insgesamt stellt Nadir Güllü 27 verschiedene Baklava-Sorten her, die im Münchner Sortiment rotieren sollen. Dazu kommen vegane, glutenfreie und für Diabetiker geeignete Alternativen sowie verschiedene Sorten an Kaffee, Tee und Eis. So kann man sich zu jedem Baklava einen geeigneten Begleiter empfehlen lassen. Und weil sich der ungesüßte Baklava-Teig auch herzhaft füllen lässt, wird der Stand zudem selbst gebackenes Börek anbieten, gefüllt mit Fleisch, Käse oder Kartoffeln.

Der Stand auf dem Viktualienmarkt ist für Nadir Güllü die zweite Filiale außerhalb der Türkei. Die erste in Tokio hat vor drei Jahren eröffnet – eher spät, wenn man bedenkt, dass das Familienunternehmen schon rund 180 Jahre alt ist. Doch Murat Güllü will kein Baklava-Imperium mit zig Standorten schaffen. Weltweit könne er sich maximal zehn bis zwölf Filialen vorstellen und pro Land soll es auch nur eine geben.
Das liegt zum einen an der Produktionszentrale am Galataport in Istanbul. Dort werden täglich zwei Tonnen Baklava hergestellt, aber nicht vom Fließband, sondern in Handarbeit. Allein die Ausbildung der Baklava-Meister dauert sechs bis sieben Jahre. Das begrenzt die Kapazität. Zum anderen will sich Murat Güllü für jeden neuen Standort Zeit nehmen, vor Ort sein, die Sprache lernen und die Kultur verstehen. Deswegen seien Touristen oder seine Landsleute nicht seine primäre Zielgruppe in München, sondern die Einheimischen.
Die Stadt München dagegen erhofft sich, dass durch Nadir Güllü mehr Türkinnen und Türken auf dem Viktualienmarkt einkaufen. „Es könnte eine Chance sein, eine neue Klientel auf dem Markt zu erschließen“, meint Kira Weißbach, die zweite Werkleiterin der Märkte München. Denn Güllüs Baklava habe unter der türkischen Bevölkerung einen guten Ruf. Bislang würden türkische Spezialitäten eher außerhalb des Stadtkerns verkauft, zum Beispiel entlang der Landwehrstraße, erklärt Weißbachs Kollegin Birgit Unterhuber, Sprecherin der Märkte München.
Manche Nachbarn sehen den Zuwachs gelassen, andere sind eher kritisch
Sie sieht keinen Widerspruch darin, dass ein ausländisches Unternehmen mit einem importierten Produkt als Händler auf einem Markt auftritt, der seiner Website zufolge Bewerber nach den Kriterien Ökologie, Umweltschutz und Regionalität auswählt. „Unsere Händlerinnen und Händler bieten durchaus zusätzlich Delikatessen aus aller Welt an, zum Beispiel Käse aus der Schweiz, Trüffel aus Spanien oder Bananen aus Südamerika.“ Außerdem sei der Stand dreimal ausgeschrieben worden, bevor mit Nadir Güllü ein geeignetes Konzept habe gefunden werden können.
Hanna Schumacher ist Gründerin der „First8 Kombucha Manufaktur“ und betreibt ihren Marktstand an der Westenriederstraße direkt neben Nadir Güllü. Sie ist froh um ihre neuen Nachbarn: „Wir sind selbst erst seit wenigen Jahren auf dem Markt und haben ein wenig gelitten, weil wir lange von Leerstand umgeben waren. Nadir Güllü zieht ganz eigene Leute an, weil sie einen Bekanntheitsgrad haben. Mit noch einem Obst- und Gemüsestand hätte man sich keinen Gefallen getan.“ Dagegen bringe Baklava neue Kunden, die dann vielleicht auch noch Obst und Gemüse kauften. „Außerdem haben wir auch Falafeln oder italienische Sandwiches auf dem Markt. Also was ist schon regional?“
Baklava aus Istanbul jedenfalls nicht, findet Christian Müller von der Kaffeerösterei auf dem Viktualienmarkt. Er stört sich vor allem daran, dass immer mehr Händler Kaffee verkaufen dürfen. „Das ist aus meiner Sicht eine unsägliche Entwicklung. Hier findet nichts Innovatives statt, sondern man versucht zu kopieren, was gut läuft. Unser Bestseller ist der Cappuccino. Der kostet 3,50 Euro, und mit diesem Produkt müssen wir einen Umsatz erwirtschaften, der 14 Gehälter zahlen muss.“ An schönen Tagen habe man diese Auslastung, „aber wir brauchen sie auch bei schlechtem Wetter“.
Seine Kollegin Lea Zapf von der gleichnamigen Marktpatisserie nimmt den Kaffee-Zuwachs dagegen gelassen. „Jeder Stand hat einen anderen Fokus. Ich biete zum Beispiel eine mittlere Röstung an, die Rösterei eine dunklere. Es kommt auch immer auf die Vorlieben der Kaffeetrinkenden an, und mehr Angebot zieht mehr Kundschaft.“ Murat Güllü sieht das ähnlich. „Wir sind keine direkte Konkurrenz, für niemanden. Wir verkaufen etwas sehr Nischiges, und mir geht es nur darum, womit sich Baklava kombinieren lässt.“
Den Umgang mit seinen Nachbarn empfindet Güllü als freundschaftlich. Man kenne sich persönlich, gebe einander Nachlass oder tausche Baklava gegen Orangensaft – eine sehr türkische Handlung, wie er findet. Sobald der Umbau am Stand abgeschlossen ist, wird man dort täglich Baklava frisch aufbacken. Denn anders als das Pop-up ist der neue Stand mit einem Ofen ausgestattet. In den ersten Wochen wird die Kundschaft dabei zusehen können, wie Murat Güllü selbst nach dem Backen Sirup übers Baklava gießt. Sein Rückflugticket nach Istanbul hat er nämlich noch nicht gebucht.