Süddeutsche Zeitung

Viertel-Stunde:Wo die Uhren anders gehen

Bis heute ist die "Giasinga Heiwoog", die lax geeichte Brückenwaage des einstigen Giesinger Heumarktes, fest im bayerischen Sprachschatz verankert

Von Julian Raff

Nach der "Giasinga Heiwoog", sprich: höchst ungenau, gehen funksynchronisierte Uhren kaum noch. Trotzdem hält sich die lax geeichte Brückenwaage des einstigen Giesinger Heumarktes bis heute fest im bayerischen Sprachschatz. Im späten 19. Jahrhundert, als es rund um München zwar kaum noch Bauernwiesen gab, aber immer noch reichlich Pferde und Fuhrwerke in der Stadt, wurde an der Ecke Claude-Lorrain-/Schyrenstraße das Futter umgeschlagen. Direkt erinnert nichts mehr an den legendären Ort. Dafür steht auf dem Platz der einstigen Waage ein 120 Jahre altes Häusl, der frühere Haupteingang ins Schyrenbad, Münchens ältestes Freibad. Darauf ein stattlicher Uhrturm, dessen Zeiger, es ist gerade Schlag zwölf, auf 9.35 Uhr stehen. Keine absichtliche Hommage an die Heiwoog, wie die zufällig vorbeikommende Bewohnerin erklärt, sondern ein Uhrwerk, das es eilig hat und mindestens drei Stunden in einer schafft.

Rund sechs Heiwoog-Stunden, also zwei normale, ist Regina Schmidt von Stattreisen München regelmäßig mit ihren Gästen unterwegs zwischen dem Bad im Norden und der Kraemer'schen Kunstmühle im Süden. Die Route führt, grob skizziert, via Hans-Mielich-Platz und Konradinstraße zum Auer Mühlbach und folgt diesem durch ein historisches, aber eben nicht museal aufbereitetes Viertel, dessen Geschichte nicht aus sich selbst heraus spricht, sondern am besten durch eine kundige Übersetzerin.

Bei den Herbergshäusln in der Birkenau ist die Vergangenheit als Arme-Leute-Vorstadt noch halbwegs präsent. Einige Stationen weiter aber, zwischen Waldeck- und Lohstraße, steht man an der Mühlbach-Brücke erst mal ratlos vor der Monumentalstatue eines Arbeiters, Tätigkeit unklar, keine Tafel. Schmidt erklärt, dass hier ein steinerner Gerber an die Mayer'sche Lederfabrik erinnert und damit auch an die Funktion des reißenden Auer Mühlbachs als Lebensader, Abwasserkloake und Energielieferant der lokalen Industrie. Weiter südlich surrt am Candidplatz in der restaurierten Bäckermühle ein privates Kleinkraftwerk. Die amtliche Genehmigung im Jahr 1986, ein Sinnspruch an der Fassade erinnert daran, wurde erst durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl möglich.

Mit der Kraemer'schen Kunstmühle markiert das wuchtigste Wasserkraft-Relikt am Mühlbach zugleich das Ende der Tour. Gemahlen wurde hier bis 2007, dann zogen Bürolofts ein. Davor kommt man noch am rätselhaftesten Bauwerk Untergiesings vorbei: Der "Archivconvent des Templerordens" zog 1968 in die neogotische Villa des Hofjuweliers Karl Winterhalter ein und ergänzte sie durch einen 67 Meter hohen, orthodoxen Zwiebelturm. Der Orden bezieht sich auf die mittelalterlichen Templer, wurde aber erst 1936 gegründet. Architektonische Traditionen scheinen am Gebäude ebenso wild gemischt zu sein wie die weltanschaulichen darinnen, wobei sich die Gemeinschaft in strenges Schweigen hüllt. Auf jeden Fall ist ihre tägliche Armenspeisung eine respektierte Sozialeinrichtung im Viertel.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2019
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