Süddeutsche Zeitung

Viertel-Stunde:Fünf Kirchen, aber keine Kneipe

Die 26-jährige Ethnologin Libuše Vepřek hat dem Lebensgefühl in der Siedlung Ludwigsfeld nachgespürt: Einem Leben zwischen Wohnen im Grünen und der Erinnerung an das dortige Außenlager des ehemaligen KZ Dachau

Von Jerzy Sobotta

Es zeugt von wissenschaftlicher Leidenschaft, wenn die studentische Abschlussarbeit eine größere Wirkung entfaltet, als bloß den Seufzer des Professors, der sie bewerten soll. Und wenn eine Forschungsarbeit sogar in eine Ausstellung mündet, zu deren Eröffnung über 100 Menschen kommen, dann weiß man: Da war Herzblut am Werk. Das merkt man auch, wenn Libuše Vepřek von ihren Feldstudien berichtet.

Als Ethnologin ist die 26-Jährige zum Ende ihres Studiums in den Kosmos der Siedlung Ludwigsfeld am nördlichen Münchner Stadtrand eingetaucht. Mehrere Monate lang hat sie sich mit den Bewohnern getroffen, hat Junge und Alte kennengelernt, Nachfahren von Lagerinsassen, von Heimatvertriebenen und neu Hinzugezogenen. Sie war fasziniert von der Siedlung, in der es fünf Kirchen, aber keine Kneipe gibt. Und sie wollte erfahren, wie sich diese Menschen diesen Fleck Erde zu eigen machen: Welche Bedeutung geben sie der unscheinbaren "Rollschuhplatte", auf der heute die Kinder spielen, wo einst aber die Baracke eines Konzentrationslagers stand? Wie eignen sie sich die Geschichte an, von der in Ludwigsfeld der Putz abbröckelt? Vepřek wollte die "Gleichzeitigkeit der historischen Schichten" einfangen und dechiffrieren, wie sie es nennt: ein Lebensgefühl, das sich zwischen Wohnen im Grünen und der Erinnerung an das Außenlager Allach des KZ Dachau bewegt. Einen Ort ambivalenter Deutungen verstehen, in dem Leben und Erinnerung ineinander übergehen. Lange Zeit kannte Vepřek die Geschichte Ludwigsfelds selbst nicht, obwohl sie gebürtige Münchnerin ist. Als sie davon erfuhr, zog es sie in den Bann.

Ihre Begeisterung will sie nun in der Ausstellung mit einem breiten Publikum teilen. Auf gut einem Dutzend Tafeln erzählt sie die bewegte Geschichte der Siedlung und ihrer Bewohner. Auf vergilbten Dokumenten, alten wie neuen Fotos und Zitaten aus ihren Gesprächen wirft sie ein Blick mitten in die Seele des Viertels.

Zu sehen ist die Ausstellung noch bis zum 21. Juni im Evangelischen Bildungswerk, Herzog-Wilhelm-Straße 24/III.

Geöffnet Montag, Dienstag, Mittwoch von 8.30 bis 12 Uhr und von 13 bis 15 Uhr sowie am Donnerstag von 12.30 bis 16 Uhr sowie nach Vereinbarung, Telefon 55 25 80-0. Der Eintritt ist frei.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2019
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