Videokunst:Helden der Vorstädte

Ausstellung bei Nir Altman
Sara Sadik: Khtobtogone, 2021Video, 
Courtesy of the artist and Crévecoeur, Paris

In Sara Sadiks Videokunstwerk "Khtobtogone" träumt sich der 20-jährige Zine in eine bessere Welt.

(Foto: Courtesy of the artist and Crévecoeur, Paris)

Sara Sadik und Cao Fei spielen in ihren popkulturell geprägten Videos virtuos mit Rollenbildern und Statussymbolen - zu sehen sind sie unter anderem in einer Vorführkoje in der Autowerkstatt im Keller einer Galerie.

Von Evelyn Vogel, München

Das Leben hat es nicht gut gemeint mit Zine. Geboren in der maghrebinischen Diaspora von Marseille, scheint er von Anfang an chancenlos. Beim Abhängen mit seinen Freunden fühlt er sich zugehörig und stark. Seinen Körper trainiert er, bis die Muskeln sich unter dem weißen, immer schmutziger werdenden Trainingsanzug perfekt abbilden und der Gurt seines geliebten Statussymbols, einer Gucci-Fake-Tasche, immer enger wird. Als eine Art "Delivery Hero" aus der Vorstadt braust der 20-Jährige auf seinem Dirt Bike durch die Landschaft hinein in die Villenviertel der Städte, klingelt an Türen palastartiger Häuser, deren Schwellen er nie übertreten wird. Doch dann lernt er Bulma kennen, die Liebe seines Lebens, und fortan hat er einen Traum: Bevor er um die Hand von Bulma anhalten will, will er "die beste Version seiner selbst" werden.

Ausstellung bei Nir Altman

Sara Sadik: Khtobtogone, 2021Video, 16’09�
Courtesy of the artist and Crévecoeur, Paris

Als eine Art "Delivery Hero" braust Zine durch die Landschaft in Sara Sadiks Video "Khtobtogone".

(Foto: Courtesy of the artist and Crévecoeur, Paris)

Bildgewaltig und gespickt mit vielen popkulturellen Referenzen aus Musik, Sprache, Mode, sozialen Netzwerken und Science Fiction erzählt die 1994 in Bordeaux geborene, in Marseille lebende französische Künstlerin Sara Sadik in ihrem Video "Khtobtogone" die Geschichte von Zine. Eine Geschichte, in der es um Rassismus, Klassenzugehörigkeit und Geschlechterrollen geht, um Egoismen und Machogehabe, aber auch um Selbstvertrauen und Selbstachtung. Ihre Arbeit hat Sadik mit Hilfe von "Grand Theft Auto V" erzeugt. Einem Videospiel, das für seine Gewalt, für Frauenfeindlichkeit und Rassismus berüchtigt ist. Der Titel "Khtobtogone" geht zurück auf einen öffentlich geführten Schlagabtausch zwischen den bekannten Rappern Booba und Kaaris. In einem Interview sagte Sadik vor einiger Zeit, die Arbeit sei aber auch ein "Destillat privater und persönlicher Gedanken mehrerer Männer", die sie im echten Leben oder virtuell während des Schreibprozesses kennengelernt habe.

Zu sehen in einer Vorführkoje in einer Werkstatt im Keller der Galerie

Aber wie real oder fiktiv der Hintergrund der Gestalten auch immer ist, das Werk Sara Sadiks ist berauschend. Perfekt gestylte Bilder, in teils schnell geschnittenen, teils weitschweifenden Sequenzen, die stakkatohafte Ich-Erzählung Zines (auf französisch mit englischen Untertiteln) und eine mitreißende Musik - dieses 16-minütige Kunstwerk ist ein Ereignis. Und wurde jüngst auch am Rande der Art Basel auf der "Liste" entsprechend gewürdigt. Die Präsentation in München ist ebenfalls bemerkenswert: Der Galerist Nir Altman, der Sadiks Video in Zusammenarbeit mit der Galerie Crévecoeur aus Paris bei Various Others zeigt, hat dafür eine Vorführkoje in einer Auto-Tuning-Werkstatt im Keller seiner Galerie eingerichtet. Videokunst im Dunst von Schmierfett und Metallspänen. Großartig!

Ausstellung MY FUTURE IS NOT A DREAM von CAO FEI im ESPACE LOUIS VUITTON MÜNCHEN

Eine virtuelle Stadt, in der sie ihren Avatar samt Baby geschickt hat: "Live in RMB City" von Cao Fei aus dem Jahr 2009 läuft im Espace Louis Vuitton.

(Foto: Cao Fei / Courtesy of the artist and Cao Fei Studio)

Sechzehn Jahre trennen die 1978 in Guangzhou am Perlflussdelta geborene chinesische Künstlerin Cao Fei von der 27-jährigen Sara Sadik. Das spiegelt sich auch in den ausgewählten, etwas älteren Arbeiten von Cao Fei wider, die der Espace Louis Vuitton München aus der hauseigenen Sammlung unter dem Titel "My Future is not a Dream" zeigt. Dabei war Cao Fei immer eine der Pionierinnen in Sachen Videokunst. Man hätte sich also gefreut, zu sehen, wie sie aktuell mit der Technik umgeht und welche Themen sie beschäftigen. Schon lange arbeitet die international gefeierte Künstlerin - gerade wurde sie mit dem Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2021 ausgezeichnet - mit den virtuellen Welten von Second Life. Das ist eine 2003 entwickelte Online-Plattform, in der Nutzer mit Hilfe ihrer Avatare ein Leben in einem Paralleluniversum führen können. Damals der ganz große Hit, der für viele Debatten sorgte. Mittlerweile von nur noch mäßigem Interesse.

Ausstellung MY FUTURE IS NOT A DREAM von CAO FEI im ESPACE LOUIS VUITTON MÜNCHEN

Panda und Fahrrad: "RMB CITY secondlife city planning" von Cao Fei aus dem Jahr 2007, zu sehen im Rahmen der Ausstellung "My Future is not a Dream" im Espace LV.

(Foto: Cao Fei / Fondation Louis Vuitton / Martin Aryroglo)

2007 entwarf Cao Fei eine eigene virtuelle Stadt, in der sie ihren persönlichen Avatar, China Tracy, ansiedelte. Ihre virtuellen Welten sind angefüllt mit typischen Symbolen der chinesischen Kultur und einer aufstrebenden Industrienation: Fahrräder, Pandas, Mao-Büsten, Alltagsgegenstände, Architekturen, Verkehrsflüsse. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer sich im radikalen Umbruch befindlichen Gesellschaft, eines Landes, das einem kompromisslosen Modernisierungsschub ausgeliefert ist und dessen Gesellschaftsstruktur sich massiv verändert, führt Cao Fei virtuos virtuell zusammen. Das ist genau wie bei Sara Sadi Gesellschaftskritik pur, verpackt in starke Erzählungen und ebensolche Videobilder.

In weiteren Arbeiten Cao Feis wird eine von Unterhaltung, Konsum und Fernsehen bestimmte Welt thematisiert. In dem Video "Whose Utopia" schlüpfen Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen in die Rollen von Manga- oder Videospielfiguren, um sich aus der Realität heraus zu träumen. Ganz sachte nähert sich Cao Fei diesen Traumgebilden und Sehnsuchtswelten. Man darf die Träume anderer einfach nicht stören.

Sara Sadik: Khtobtogone, Galerie Nir Altman, Alpenstr. 12, bis 30. Okt.; Cao Fei: My Future is not a Dream, Espace Louis Vuitton, Maximilianstr. 2a, bis 9. Jan.

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