Süddeutsche Zeitung

Verlies:Verborgene Geisterstadt im Olympiapark

In den Katakomben finden sich viele Kuriositäten. Ein Verlies zum Beispiel. Das interessiert vor allem die Filmbranche.

Von Wolfgang Görl

Tausendmal gesehen - und doch ist es immer wieder eine Freude, das Ensemble der olympischen Sportstätten von 1972 zu betrachten: Das grandiose Zeltdach, darunter das Stadion, die große Halle, das Schwimmbad. Was für eine tolle Architektur, die Günter Behnisch und seine Kollegen da geschaffen haben. Es ist, als würde das Dach wie ein vom Wind gehobener Schleier über den Sportanlagen schweben, so leicht, so luftig erscheint die Konstruktion. Doch auch sie hat ein dunkles Geheimnis, eines, das der verheißungsvollen Transparenz dieser Architektur zum Trotz im Untergrund verborgen liegt.

Was also birgt der olympische Keller? Zum Beispiel ein Gefängnis. Tatsächlich, es gibt so etwas wie ein unterirdisches Verlies, zwei Zellen hat es, Käfige aus Drahtgitter, die in den Katakomben des Olympiastadions aufgestellt sind. Wer den Knast unbedingt besichtigen will, ist gut beraten, bei einer Veranstaltung so ungezügelt zu randalieren, dass sich die Polizei zur Festnahme gezwungen sieht. Dies wäre sozusagen der reguläre Weg in die Arrestzellen.

Neulich aber besichtigten rund 40 Filmschaffende den olympischen Untergrund, um Ausschau zu halten nach Drehmotiven und Kulissen. Dabei geriet die Gruppe auch in die Polizeistation mit dem Drahtzwinger - für Kinoleute zweifellos ein Ort gesteigerten Interesses. Vielleicht tauchen die Zellen demnächst in einem Film über lateinamerikanische Militärdiktaturen auf.

Genau darum geht es bei der Location Tour, die der Film-Fernseh-Fonds Bayern (FFF) zum 16. Mal veranstaltete: Filmleute inspizieren Orte, die womöglich geeignet sind, als Schauplatz einer Szene zu dienen. Was den Olympiapark betrifft, hat sich das Areal als Drehort internationaler Produktionen vielfach bewährt. Im vergangenen Jahr etwa drehte Oliver Stone hier "Snowden", auch für "München 72 - Das Attentat" (Dror Zahavi) oder "Vaterfreuden" (Matthias Schweighöfer) diente der Olympiapark als Kulisse.

Wer in den Katakomben nicht gerade einen Film drehen will, ist beim Herumwandern erst einmal ernüchtert. Unterhalb des filigranen Wunderwerks regiert die Nüchternheit technischer und logistischer Zwecke. Man streift durch kalt beleuchtete tunnelartige Gänge, an deren Decke endlos erscheinende Rohre und Kabelstränge montiert sind. Es ist aber auch eine Reise in eine Zeit, die doch irgendwie bunter war, zwangloser und heiterer als die Gegenwart.

Die Duschräume beispielsweise, in denen sich die Olympioniken nach den Wettkämpfen den Schweiß abgewaschen haben, sind in einem derart schrillen Orange gehalten, wie man es zuletzt auf Psychedelic-Rock-LP's der Siebziger gesehen hat. Keine Duschkabinen übrigens, die einen gewissen Sichtschutz geboten hätten. Sofern man die nicht abmontiert hat, ist dies ein weiteres Beispiel, wie sehr man damals um Transparenz bemüht war.

Ein Waschbecken in der Umkleide sticht ins Auge, das genauso gut in einer veralteten Jugendherberge an der Wand hängen könnte. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Leichtathletik-Heroen wie Klaus Wolfermann, Walerij Borsow oder Lasse Virén sich hier die Hände gewaschen haben. Ein wenig erinnert diese olympische Unterwelt an die Geisterstädte in Kalifornien, die für wenige Jahre erblühten, bis der Goldrausch einem schmerzvollen Kater gewichen war und die Bewohner sich aus dem Staub machten.

Das Mobiliar ist noch da, das Leben aber verschwunden. Hier, im olympischen Untergrund, hat sich der heitere Charme der Münchner Sommerspiele längst verflüchtigt. Ja, muss man nicht eigentlich sagen: Er ging in dem Moment verloren, als palästinensische Terroristen das olympische Dorf überfielen und israelische Sportler ermordeten.

Wer den Geist der Spiele erspüren will, sollte nicht unbedingt hinter die Kulissen schauen. Warum auch? Etwas, das beeindruckender ist als die lässige Schönheit des Ensembles unter dem Zeltdach, findet sich so schnell nicht. Sind sich die Stadt und die Olympiapark-Gesellschaft dessen eigentlich bewusst?

Wenn ja, wie können sie es zulassen, dass die Spielfläche des Stadions seit Jahren zugeteert ist wie der Parkplatz eines Outlet-Centers? Nur mal so zur Erinnerung: Dies ist ein historischer Ort und ein Architekturdenkmal ersten Ranges. Es mit einem Material zu verschandeln, mit dem man sonst Straßen pflastert, ist eine Schande. Das ist nun mal der Nachteil des Olympiaparks: Man darf nicht zu genau hinschauen.

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