Verkehrspolitik in München:Radeln in der autogerechten Stadt ist sehr gefährlich

Wenn es nicht so schlecht um die Sicherheit stünde, würden weitaus mehr Menschen in der Landeshauptstadt das Fahrrad nutzen

Verkehrspolitik in München: Mit sogenannten Geisterrädern werden in München Stellen markiert, an denen sich tödliche Radunfälle ereignet haben.

Mit sogenannten Geisterrädern werden in München Stellen markiert, an denen sich tödliche Radunfälle ereignet haben.

(Foto: Florian Peljak)

Zu Berichten über die Verkehrslage in München, unter anderem "Nicht ganz sauber" vom 15. November, "Mehr Platz für Radler" vom 7. November, "Umweg übers Gericht" vom 2. November, "Spielzeug für die Straße" vom 20./21. Oktober und "Nachgebessert wird nicht" vom 4. Oktober:

Wie in allen anderen deutschen Großstädten stand auch in München seit 1945 bis in die Gegenwart die Verkehrspolitik unter der obersten Prämisse, den motorisierten Individualverkehr (MIV) zu fördern und dafür die Stadt autogerecht umzubauen. Alle Maßnahmen zur Optimierung des Verkehrsflusses wie zum Beispiel Schnellstraßen, Fahrspurverbreiterungen, Abbiegespuren oder Parkplätze konnten nur auf Kosten des öffentlichen Raumes der Stadtbewohner erfolgen: Abschaffung von Boulevards, Verschmälerung der Bürgersteige, Umwandlung von Grünflächen zu Verkehrswegen, Überbauung von Brachflächen, und so weiter.

Alle weiteren Verbesserungen wie Altstadt/Mittlerer/Frankfurter Ring, grüne Wellen und Tunnelbauten erhöhten die Attraktivität für den MIV und lockten zusätzlichen Pendlerverkehr in die Stadt (aktuell 380 000 Pendler pro Werktag). In diesem motorisierten Verkehrsnetz wurden die Radfahrer als eindeutige Brems- und Störfaktoren von den Straßen verbannt und dürfen sich den Randstreifen beziehungsweise die Restflächen mit den Fußgängern teilen. Durch schmale Bürgersteige und noch schmälere Radwege sind Konflikte allein wegen der räumlichen Enge und der unterschiedlichen Geschwindigkeiten programmiert.

Die "Erfolge" dieser Verkehrspolitik sind seit vielen Jahren zu sehen: Deutschlandweit belegt München (2017) Platz 1 hinsichtlich der Anzahl an Staustunden. Zur Hauptverkehrszeit beträgt das Durchschnittstempo 9 km/h, was immerhin für Platz 3 hinter Mönchengladbach (7 km/h) und Berlin (8 km/h) reicht. Platz 1 bei der Stickoxidbelastung, Platz 9 bei der Parkplatzsuchzeit (50 Stunden/Jahr), Platz 14 bei Feinstaub, und so weiter.

In dieser Situation glaubt das Verkehrsreferat an das Wunder, den Radverkehrsanteil mit billigen Insellösungen zu steigern, ohne die wichtigste Grundvoraussetzung fürs Radfahren zu schaffen: Sicherheit. Denn nach vielen Untersuchungen können Stadtbewohner hinsichtlich Radfahren in etwa vier Gruppen eingeteilt werden: Circa 1 Prozent lehnt Radwege ab, da sie ohne diese schneller vorankommen und sich auch bisher etwa beim Linksabbiegen auf mehrspurigen Straßen behaupten konnten. Circa 6 Prozent sind bereits aktive und begeisterte Radfahrer und kommen mit dem bisherigen Mischverkehr leidlich zurecht. Circa 30 Prozent empfinden bereits die Frage nach einer Radnutzung als Zumutung und werden wohl nicht dafür zu gewinnen sein. Der Großteil von circa 60 Prozent wäre am Radfahren sehr interessiert, wenn sie auf dem gesamten Radwegnetz jederzeit das Gefühl von Sicherheit hätten.

Selbst bei einer kompletten Straßenneugestaltung wie der eher unbedeutenden Marsstraße (laut Baureferat für Autos und Lkw "überdimensioniert") wird ein sicherer Radweg rechts der Parkspur mit der Begründung verweigert, Beifahrer würden beim gedankenlosen Aufstoßen der Wagentüre die Radler stark gefährden. Dabei sind 73 Prozent aller innerstädtischen Pkw (Berufsverkehr: 96 Prozent) ohne Beifahrer unterwegs. Auf der abschüssigen Marsstraße wird deshalb der farblich abgesetzte Radweg wie immer links der Parkspur angelegt mit der Folge, dass bei jedem einzelnen Parkvorgang vier Gefahrensituationen entstehen: Das Überqueren und Blockieren des Radweges beim Ein- und Ausparken und das Öffnen der Fahrertür beim Ein- und Aussteigen. Auch beim häufigen Parken in zweiter Reihe zum Be- und Entladen werden die Radfahrer in den fließenden Verkehr gezwungen. Das dabei entstehende Gefühl kann jeder Münchner täglich auf der Rosenheimer Straße zwischen Orleansstraße und Rosenheimer Platz kostenlos kennenlernen.

In Städten wie Amsterdam, Oslo oder Kopenhagen könnten die Münchner Politiker sichere Radweglösungen studieren. Und zur Verhinderung des Verkehrsinfarktes lohnt durchaus ein Blick über die Grenzen. Wien bietet nach konsequentem Ausbau des ÖPNV für jedermann eine Gesamtnetz-Jahreskarte zu 365 Euro an (München: 2142 Euro). Mit einer Citymaut für Pendler wie in London, Mailand oder Bologna kann dieser Verkehrsdruck rasch und spürbar reduziert werden. Eine Staffelung der Maut zum Beispiel nach PS-Anzahl und Stickoxidausstoß wäre sinnvoll. Groningen unterteilt seine Innenstadt in Sektoren, welche vom MIV nur radiär von außen über Ringstraßen angefahren werden können. Durchgangsverkehr, Abkürzungen oder großräumige Parkplatzsuche sind damit unterbunden. Barcelona erzielt den gleichen Effekt mit blockweiser Einteilung der Innenstadt mittels intelligenter Einbahnregelung.

Ohne Rückgabe und Umwandlung von Straßenflächen ist eine Verbesserung der Verkehrssituation nicht möglich. Da die Mobilität der Zukunft sowohl in der Wirtschaft (statt Firmenwagen nun Tausende E-Bikes für BMW-Angestellte) als auch in den Medien (SZ-Rubrik Mobiles Leben) nur motorisiert vorstellbar ist, werden all die elektrischen Segways, Klappmofas, Miniroller, Skateboards und Pedelecs zusätzlich auf den Radwegen zu noch mehr Konflikten mit den Fußgängern führen. Solange allerdings auch für die Münchner selbst ein Stadtleben ohne Auto und Parkplatz undenkbar ist, werden sie auch nicht für eine Aufwertung ihrer Stadt kämpfen. Es bleibt bei sinnfreien Machbarkeitsstudien zur Schonung des MIV und seiner Parkplätze, die Politik plappert über Flugtaxis, Seilbahnen bis Unterföhring, sofortige 365-Euro-Tickets ohne entsprechende ÖPNV-Kapazität und begeistert sich an "Vision Zero" (deutsch: Vision Null, also das Ziel eine Verkehrs ohne Unfalltote und Schwerverletzte; d. Red.), an "betrieblichem Mobilitätsmanagement" und an den bewilligten Zuschüssen für überlange und überbreite Lastenräder. Die parteiübergreifend wiederkehrenden, wohlfeilen Appelle zur gegenseitigen Rücksichtnahme werden im Vergleich zu 2017 ein Ansteigen der verletzten (2552) und toten (5) Radfahrer in der Zukunft mit Sicherheit nicht verhindern.

Johann B. Thaller, München

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