Verkehr:Stauhauptstadt München

In keiner anderen deutschen Stadt stehen Autofahrer auch nur annähernd so lang auf der Straße, wie eine Datenauswertung zeigt. Dabei stecken sie gar nicht besonders oft fest. Aber wenn es stockt, dann richtig

Von Thomas Harloff

Stau am Mittleren Ring in München, 2017

Stillstand am Olympiapark: Münchner Autofahrer verlieren die meiste Zeit abends auf dem Mittleren Ring zwischen Georg-Brauchle-Ring und der Auffahrt auf die A 96 in Sendling.

(Foto: Stephan Rumpf)

51 Stunden pro Jahr, das wäre Zeit, um zum Beispiel ungefähr eine Stunde pro Woche länger zu schlafen oder jeden Monat einen Ausflug von gut vier Stunden zu machen. Münchens Autofahrer verbringen diese 51 Stunden pro Jahr im Stau. Zu diesem Ergebnis kommt die US-amerikanische Firma Inrix, die sich mit Verkehrsanalysen beschäftigt, in ihrem neuen Report, den sie am Dienstag vorgestellt hat. München ist wieder einmal mit weitem Abstand die Stauhauptstadt Deutschlands. Hier stehen die Autofahrer sieben Stunden mehr im Stau als in den nächstplatzierten Städten Hamburg, Berlin und Stuttgart.

Inrix hat nach eigenen Angaben die Daten von weltweit 300 Millionen vernetzten Autos, Smartphones und Navigationsgeräten sowie von Verkehrsbehörden und anderen offiziellen Quellen ausgewertet. Insgesamt hat das Unternehmen 1360 Städte in 38 Ländern analysiert, davon 73 in Deutschland. Die Firma versucht dabei, die verschiedenen Facetten des Verkehrs in einer Großstadt abzubilden: wie viel Prozent ihrer gesamten Fahrtzeit Autofahrer auf verschiedenen Straßen und an unterschiedlichen Tagen zu je verschiedenen Uhrzeiten in Staus verbringen. So soll sich nicht nur der Berufsverkehr in den Zahlen spiegeln, sondern auch das Verkehrsaufkommen tagsüber, nachts und am Wochenende. Der Wert von 51 Stunden pro Jahr im Stau bezieht sich auf die Autofahrer, die vor allem in Stoßzeiten unterwegs sind. Nach der Inrix-Definition steht ein Autofahrer im Stau, wenn seine Geschwindigkeit auf einen Wert unter 65 Prozent des Tempos bei freier Fahrt fällt.

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Blickt man auf die vergangenen Jahre, dann zeigt sich: Es gibt keine wirkliche Besserung in München. Im Jahr 2016 standen die Autofahrer 48,5 Stunden im Stau, im Jahr davor 53 Stunden. Interessant ist dagegen die Situation in Stuttgart und Köln: 2015 lagen die schwäbische und die rheinische Metropole mit 73 beziehungsweise 71 Staustunden auf den ersten Plätzen wegen besonders vieler Baustellen. Danach entwickelten sich beide Städte positiv. Stuttgart reduzierte die durchschnittliche Stauzeit erst auf 45,8 und nun auf 44 Stunden, Köln gelangte über 45,9 zu 40 Stunden. Eine der wesentlichen Ursachen für zäh fließenden Verkehr sind Baustellen, wie der Stauforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen erklärt: "Die zunehmenden Baumaßnahmen bringen partiell zwar Verbesserungen, verschärfen kurz- bis mittelfristig jedoch die Stauproblematik."

Münchner Autofahrer verlieren die meiste Zeit abends auf dem Mittleren Ring zwischen Georg-Brauchle-Ring und der Auffahrt auf die A 96 in Sendling. Auf den 6,7 Kilometern über die Landshuter Allee, die Donnersbergerbrücke und durch den Trappentreutunnel büßen sie pro Jahr durchschnittlich 27 Stunden ein. Drei weitere Strecken mit Zeitverlusten von mehr als 20 Stunden pro Jahr zeigen, dass das Münchner Straßennetz insgesamt stark überlastet ist.

Die Inrix-Daten zeigen aber auch: Münchner stehen gar nicht so oft im Stau, sie haben zu 84 Prozent freie Fahrt. Doch wenn sie im Stau stehen, dann so richtig. Nirgends sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit in Stoßzeiten so drastisch wie in Münchens Innenstadt, nämlich auf ein Viertel des Tempos bei freier Fahrt. Statt mit 30,26 bewegen sie sich dann nur mit 8,52 km/h vorwärts. Zum Vergleich: Ein Mensch geht mit etwa drei km/h gemütlich spazieren und überquert mit 4,5 bis 5,5 km/h eine Fußgängerampel. Kaum besser wird die Situation, wenn man die großen Ein- und Ausfallstraßen einberechnet. In diesem Fall sinkt die Geschwindigkeit von 64,62 auf 19,76 km/h.

Im internationalen Vergleich steht München auf Platz 76 von 1360. In Los Angeles, weltweit die Nummer eins, stehen Autofahrer doppelt so lange im Stau, nämlich 102 Stunden. Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man die durchschnittliche Staurate betrachtet. Sie beschreibt den prozentualen Anteil der im Stau verbrachten an der insgesamt gefahrenen Zeit. Los Angeles hat eine Staurate von zwölf Prozent, die von München beträgt 16 Prozent - auch das ist der Höchstwert in Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit, in München im Stau zu stehen, ist also höher als in Los Angeles, was allerdings auch daran liegt, dass dort insgesamt viel mehr Auto gefahren wird.

Doch nicht nur in den Städten stockt der Verkehr. Wie der ADAC kürzlich mitteilte, gab es auf den deutschen Autobahnen einen neuen Staurekord. 2017 summierten sich 723 000 Staus auf eine Gesamtlänge von 1 448 000 Kilometer. Der Zeitverlust stieg um neun Prozent auf 457 000 Stunden. Und das, obwohl der Verkehr nur geringfügig zugenommen hat, laut Bundesanstalt für Straßenwesen um 1,3 Prozent.

Dabei überrascht gar nicht so sehr die regionale Verteilung der Autobahnstaus: Wie in den Vorjahren entfallen zwei Drittel aller Staus auf Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Interessanter ist die zeitliche Verteilung. Die meisten Staus gibt es nicht etwa an den Wochenend-Pendeltagen Sonntag, Montag und Freitag oder am Sonnabend, dem Tag der Urlaubsfahrer und Bettenwechsler, sondern donnerstags. Eine allgemeingültige Ursache gebe es dafür nicht, teilt der ADAC mit, höchstens Erklärungsansätze: "Freitags gibt es zwar den klassischen Wochenend-Pendelverkehr, dafür sind weniger Berufspendler unterwegs", sagt ein Sprecher. Außerdem werde montags und freitags gerne von zu Hause aus gearbeitet, der Donnerstag sei in dieser Hinsicht eher unbeliebt.

Sowohl die Stauexperten des ADAC als auch jene von Inrix weisen darauf hin, dass Staus nicht nur die Umwelt schädigen und die Lebensqualität beeinträchtigen, sondern sich auch negativ auf die Wirtschaft auswirken. "Staus kosten die Deutschen über 30 Milliarden Euro pro Jahr und bedrohen damit das Wirtschaftswachstum", sagt Graham Cookson, Chef-Volkswirt bei Inrix. Man müsse mehr in intelligente Verkehrssysteme investieren. Das heiße aber nicht, dass immer mehr Straßen gebaut werden müssen - diese zögen nur noch mehr Autos an. "Die Städte müssen sich für alternative Mobilitätslösungen öffnen", ergänzt der Stauforscher Michael Schreckenberg.

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