Süddeutsche Zeitung

Verein Horizont:Blauäugig erfolgreich

Die Obdachlosen-Initiative von Jutta Speidel feiert ihren 20. Geburtstag

Von Thomas Becker

Angefangen hat alles an der Akademiestraße, in einer Pension. Jutta Speidel war bei einem Dreh, sie wurde gerade geschminkt, als sie diese Leute sah: obdachlose Mütter mit ihren Kindern, notdürftigst untergebracht, verzweifelt und dankbar zugleich. "Ich fragte mich: ,Was sind das für Menschen? Warum leben die da?' So habe ich angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe einen Zeitungsartikel in Biss dazu gelesen, und so hat sich das alles entwickelt." Das alles - Speidel zeigt mit ausladender Geste ins weite Rund der Alten Kongresshalle. Ein paar hundert Menschen sind ihrem Ruf zur Dankeschön-Gala des Vereins Horizont gefolgt, jener gemeinnützigen Initiative für obdachlose Kinder und deren Mütter, die Speidel vor 20 Jahren mit ihrer Mutter Gerlinde und sechs Freunden gegründet hatte. Und all die Gäste, von A wie Anselm Bilgri bis Z wie Gottfried Zmeck, die muss die Schauspielerin nun aufs Allerwärmste begrüßen. Fast alle sind nämlich Menschen, die ihr Projekt mit Spenden unterstützt haben.

Nach offiziellen Angaben sind derzeit in München knapp 6800 Menschen wohnungslos, darunter etwa 1500 Kinder. Dank der Unterstützung der Förderer konnte die Initiative Horizont bislang mehr als 2000 Obdachlose in ein eigenverantwortliches Leben begleiten, wie Speidel sagt. Ihr Konzept: "Dass eine obdachlose Mutter mit ihren Kindern in unserem Haus wohnen kann und dass sie dort alles hat: von der Kinderkrippe bis zur Hausaufgabenbetreuung, Deutschkurse, individuelle Gespräche und Hilfestellungen. Vor allem geht es darum, das Trauma zu bearbeiten und das Selbstwertgefühl zu stärken." Doch die Zahl obdachloser Kinder und Mütter sei in den vergangenen Jahren signifikant gestiegen, und auch angesichts der Flüchtlinge stehe man nun vor einer immensen Herausforderung, sagt Speidel. Nachdem das Horizont-Haus für obdachlose Mütter mit seinen 24 Wohnungen und zwei Notschlafplätzen aus allen Nähten platzt, entsteht derzeit im Domagkpark im Münchner Norden ein weiteres Haus, diesmal sogar für 48 in Not geratene Familien. "Das beziehen wir im Frühjahr 2018", kündigt Speidel an, "und dann wird es sicherlich ein gutes Jahr dauern, bis alles so läuft, wie wir uns das vorstellen. Das ist eine große Aufgabe."

Ein Satz, wie ihn ihr vor zwei Jahrzehnten auch der Oberbürgermeister entgegnet hatte, als sie ihn um Unterstützung bat. Christian Ude erinnert sich: "Ich war eine gespaltene Persönlichkeit damals. Einerseits fand ich ihre Idee ja toll, aber auf der anderen Seite dachte ich: ,Um Himmels Willen! Das schafft die liebe Jutta ja nie! Die hat ja keine Ahnung von den Mühen der Ebene.'" Ganz so drastisch habe er ihr das damals zwar nicht gesagt, sagt Ude, aber ihn hätten schon Zweifel an der Realisierbarkeit des Projekts geplagt. "Heute ist mir das ziemlich peinlich, denn sie hat alle Hürden genommen, dank ihrer Zähigkeit." Nachtragend scheint die liebe Jutta nicht zu sein, längst hat sie den früheren Oberbürgermeister als stellvertretenden Vorsitzenden in den Stiftungsrat geholt.

Für ihr Engagement ist Speidel schon mit 13 Preisen ausgezeichnet worden, darunter das Bundesverdienstkreuz und die Medaille "München leuchtet". Noch lieber sind ihr allerdings Spenden - auch beim Gala-Abend wird zwischen Serviettenknödelcarpaccio und Humus mit Lammpflanzerln eifrig gesammelt, denn jeden Monat kostet der laufende Betrieb der Einrichtung etwa 60 000 Euro. Ihrer Mutter Gerlinde wollte die umtriebige Speidel den Gala-Trubel ersparen, dafür sind die Töchter mit von der Partie: Die gelernte Sozialpädagogin Franziska gehört fest zum Horizont-Team, und die Opernsängerin Antonia gab auf der Bühne ein paar spanische Volkslieder zum Besten, arrangiert vom immer wieder erstaunlichen Komponisten und Kontrabassisten Alex Haas.

Die Gastgeberin hört an diesem Abend nicht auf zu strahlen: "Rückblickend muss ich sagen: Wenn man gar keine Idee von so einem Ehrenamt hat, sondern nur die Idee, etwas verbessern zu wollen, dann ist es sehr gut, wenn man da etwas blauäugig hineingeht." Und Speidel erinnert sich an die vielen Widerstände: "Allein eine Satzung zu schreiben! Leute davon zu überzeugen, dass eine Frau, die auf der Straße lebt, nicht automatisch eine Pennerin ist, das hat mich sehr viel Überzeugungskraft und Engagement gekostet." Sie bereue aber nicht einen Tag.

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Quelle:
SZ vom 30.01.2017
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