Szene:München, warum bist du dauernd reserviert?

Schlange vor dem Eingang der Hypo-Kunsthalle in München, 2015

Schlange vor dem Eingang der Hypo-Kunsthalle in München

(Foto: Florian Peljak)

Konzert? Ausverkauft. Theater? Schon lange ausverkauft. Überall sonst: lange Schlangen. In München ist viel los, man kann nur leider selten dabei sein.

Kolumne von Anna Hoben

Der typische Großstädter kommt aus der Kleinstadt. Er ist in die Großstadt gezogen, weil es dort Universitäten gibt und Arbeitsplätze. Und weil was los ist. Man kann in München jeden Abend tolle Dinge unternehmen, die dem eigenen individuellen und guten Geschmack entsprechen.

Es gibt nur ein Problem, wenn eine Großstadt wie München so schnell wächst wie ein kleines Kind und man jedes halbe Jahr wie die alte, ungeliebte Tante in die Hände klatschen und rufen könnte: "Mei, was bist du groß geworden!" Das Problem also ist, dass Hunderte und Tausende andere denselben individuellen und guten Geschmack haben wie man selbst.

Das Problem wird dann noch größer, wenn die anderen schneller sind, und das sind sie oft. Konzert? Ausverkauft. Theater? Schon lange ausverkauft. Die neue Fotoausstellung in der Kunsthalle? Ausstellungen können schlecht ausverkauft sein. Dafür steht man eine Viertelstunde in der Schlange und schiebt sich dann mit den Massen an den Bildern vorbei, total individuell. Wunderbares Foto, große Kunst, vor allem die Idee mit der Schulter im Vordergrund - ach so, die gehört gar nicht zum Bild.

Sogar Lesungen sind in München ausverkauft. Lesungen! Und zwar nicht nur dann, wenn Stars wie T.C. Boyle auftreten, sondern auch Veranstaltungen mit lokalen oder regionalen Autoren. An den Orten, an denen man hypothetisch nach den Veranstaltungen landen würde, wenn man denn Karten bekommen hätte, ist auch nichts zu holen.

Halb elf in einer Bar in der Altstadt, der hübsche, freie Tisch am Fenster: reserviert. Wer reserviert für 23 Uhr einen Tisch in einer Bar? Ach, man muss sich eigentlich nicht wundern. München ist wahrscheinlich auch die einzige Großstadt, in der man sogar in einer sehr beliebten Currywurstbude mit einer sehr durchschnittlichen Currywurst einen Tisch reservieren kann.

Der Großstädter zeichnet sich durch Blasiertheit und Reserve aus, schrieb der Soziologe Georg Simmel vor 114 Jahren. Abgestumpft den Dingen gegenüber, reserviert seinen Mitgroßstädtern gegenüber. Würde Simmel seinen Aufsatz "Die Großstädte und das Geistesleben" heute noch einmal schreiben, müsste er ihn umformulieren. Es ist nicht nur der Großstädter, der reserviert ist. Die ganze Großstadt ist reserviert.

Es gibt Abende, da hat der Münchner keine Kraft, den Kampf gegen die Reservierungen zu kämpfen. Also geht er nach Hause. Insgeheim hat er da auch Angst. Davor, dass auf dem eigenen Bett schon ein "Reserviert"-Schildchen steht.

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