Süddeutsche Zeitung

"Urteile" am Münchner Residenztheater:Leben nach den NSU-Morden

Es geht um Angst, verletzte Gefühle und erschreckende Vorurteile. Im Theaterstück "Urteile" am Münchner Residenztheater dreht sich alles um die Opfer der NSU-Morde. Ehefrauen, Schwiegermütter oder Brüder schildern ihr Leben nach den blutigen Verbrechen.

Von Annette Ramelsberger

Zehn Menschen wurde zwischen 2001 und 2007 durch Kopfschüsse ermordet, die Polizei hat nach ihren Mördern gesucht und sie nicht gefunden. Bei der Suche allerdings blieben andere Menschen auf der Strecke: die Ehefrauen, die Kollegen, die Brüder. Sie alle wurden verdächtigt, hinter den Morden zu stecken. Erst Jahre später stellte sich heraus: Es waren Rechtsradikale von der Terrorgruppe NSU, die durch Deutschland fuhren und türkische und griechische Männer erschossen. Und eine deutsche Polizistin.

Der Nationalsozialistische Untergrund und der NSU-Prozess sind das große Thema dieser Theatersaison. In Frankfurt befasste sich das Stück "Der weiße Wolf" mit dem Innenleben der Mördergruppe, in Karlsruhe hatte gerade das Stück "Rechtsmaterial" Premiere, das die historischen Wurzeln des rechten Terrors in Deutschland beleuchtet. Am Donnerstagabend widmete sich das Münchner Residenztheater nun dem Leid der Opfer des NSU.

Das Stück "Urteile" von Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi ist ein beeindruckend dichtes Kammerspiel. Ehefrauen, Schwiegermütter, Brüder der Opfer sprechen da. Aber auch die Schuldirektorin, die der Tochter eines der Ermordeten empfahl, doch lieber auf eine andere Schule zu wechseln.

Das Blut des eigenen Bruders

Das Münchner Stück ist immer dann besonders gut, wenn es ganz nah an den Personen bleibt. Wenn man die vordergründig besorgte Direktorin hört und gleich danach die Schulsekretärin, die sagt, was wirklich hinter der Sorge stand: dass die Mafiakiller, von denen man dachte, dass sie den Vater der Schülerin umgebracht hätten, vielleicht auf den Schulhof kommen, um auch andere Kinder zu töten. Weil diese Morde unheimlich waren, beängstigend und man sie in "jenem Milieu" ansiedelte, in dem Einwanderer lebten.

Das sind die starken Momente dieses Stückes mit den hervorragenden Schauspielern Paul Wolff-Plottegg, Demet Gül und Gunther Eckes. Wenn sich das Erschrecken über die eigenen Vorurteile ganz beiläufig einschleicht, wenn sich die Zuschauer selbst erkennen in ihren Vorurteilen. Und wenn deutlich wird, wie alleingelassen allein gelassen die Opfer waren, wenn sie das Blut ihres Bruders mit der Spachtel vom Boden kratzen mussten.

Zu viel Zeigefinger

Doch das Stück verstimmt einen immer dann, wenn der Zeigefinger gar zu sehr gehoben wird, wenn dem Zuschauer nach Brechtscher Manier ständig die Moral von der Geschicht' vorgehalten wird. Irgendwann hat man kapiert, dass es Vorurteile in Deutschland gibt, dass der Rassismus bekämpft werden muss und die Polizei versagt hat. Und die Presse auch nicht mehr rausfand und vom "Dönerkiller" schrieb.

Und dann sitzen da ganz nah am Ausgang zwei Polizisten in Uniform, die Dienstwaffe im Holster. Die Schauspieler sprechen sie im Stück direkt an, stellvertretend für die Polizeikollegen, die versagt hatten. Die Polizisten sitzen da, mürrisch, schweigsam, sie lächeln kein einziges Mal. Sie klatschen auch nicht am Ende. Genauso wie man sich dumme, bornierte Polizisten vorstellt. Man muss lange nachfragen, bis man erfährt: Es sind keine echten Polizisten. Es sind Komparsen.

Manchmal sind eben auch Theatermacher nicht vor Vorurteilen und Stereotypen gefeit. Ressentiments gibt es überall. Auch das lernt man aus diesem Stück.

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