Süddeutsche Zeitung

Urteil: NS-Kriegsverbrecherprozess:"Ermahnung für die Zukunft"

Der 90-jährige Josef Scheungraber ist in einem der letzten Kriegsverbrecherprozesse zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Anwälte gehen in Revision, die Hinterbliebenen empfinden Gerechtigkeit.

Josef Scheungraber sitzt ganz steif da, er zeigt keine Regung. Mit Freispruch oder lebenslang hätte der Prozess ausgehen können. Scheungraber bekommt am Dienstagvormittag lebenslang.

Das Landgericht München I hat den als NS-Kriegsverbrecher angeklagten 90-Jährigen verurteilt - er sei als Wehrmachts-Soldat für die Ermordung von zehn Italienern 1944 in der Toskana mitverantwortlich, so das Gericht.

Das Schwurgericht bewertete die Tat als Mord aus niedrigen Beweggründen. Die Sühneaktion Scheungrabers habe Unschuldige getroffen, da man der wahren Täter nicht habhaft werden konnte, sagt Richter Manfred Götzl. "Bei seinem Vorgehen kam es dem Angeklagten darauf an, seinen Hass wegen des Todes seiner Soldaten abzureagieren und sich zu rächen."

Der aus Ottobrunn bei München stammende Rentner hatte die Vorwürfe in dem elf Monate dauernden Prozess bestritten. Unmittelbar vor dem Urteil verzichtete er auf ein letztes Wort.

Während Scheungraber das Urteil ohne Regung aufnimmt, sackt sein Anwalt Rainer Thesen bei der Verkündung mit einem Schwächeanfall zusammen. Erst nach einigen Sekunden kommt er wieder zu sich. Das Urteil ist für einige überraschend, nicht nur die Anwälte von Scheungraber hatten einen Freispruch erwartet.

Im Gerichtssaal sitzen auch einige Hinterbliebene der Opfer. Als das Urteil gesprochen ist, beginnen einige Zuhörer im Gerichtssaal zu klatschen. Richter Götzl mahnt die applaudierenden Zuhörer zur Ruhe: "Hören Sie bitte sofort auf", sagte er. Er wolle zur Urteilsbegründung keinerlei Kommentare.

Anschließend sagt Angiola Lescai, deren Vater bei dem Massaker umkam, es sei ein wichtiges und gerechtes Urteil für die Familien der Opfer. "Und es ist auch eine Ermahnung für die Zukunft, dass es in schwierigen Kriegszeiten immer eine persönliche Verantwortung gibt."

Auch Andrea Vignini, Bürgermeister des Ortes Cortona, zeigt sich zufrieden: "Wir haben 65 Jahre lang darauf gewartet, wir sollten diesen Tag den Ermordeten widmen."

Die Anwälte von Scheungraber kündigen anschließend Rechtsmittel gegen die Entscheidung an. "Das ist ein Skandalurteil", sagt Anwalt Klaus Göbel. "Wir gehen auf jeden Fall in Revision."

Der 90-jährige Scheungraber musste sich vor Gericht wegen eines Verbrechens verantworten, das 65 Jahre zurückliegt: Im Juni 1944 verübten deutsche Soldaten in der Toskana, in dem Weiler Falzano di Cortona, ein schreckliches Massaker. 14 Menschen kamen ums Leben - vier wurden hinterrücks erschossen, zehn in einem Haus in die Luft gesprengt.

Was genau damals passiert ist, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen. Deutsche Gebirgspioniere des Bataillons 818 haben dieses Kriegsverbrechen nach dem Tod zweier Kameraden in einem Partisanen-Hinterhalt begangen, so viel steht fest. Aber war ihr Kompaniechef Leutnant Josef Scheungraber auch der Verantwortliche? Hat der heute greise Angeklagte damals den Befehl zu dem Vergeltungsschlag an Angehörigen der Zivilbevölkerung erteilt?

Es war ein schwieriger Prozess vor dem Münchner Schwurgericht. Er gibt einen Vorgeschmack auf das, was die Beteiligten in der bevorstehenden Verhandlung gegen den mutmaßlichen KZ-Schergen John Demjanjuk erwartet.

In beiden Fällen leben kaum noch Zeugen. Die Gerichte sind weitgehend auf Dokumente und Experten-Gutachten angewiesen. Im Fall Scheungraber hat sich das Schwurgericht die Untersuchung der Vorgänge in der Toskana nicht leicht gemacht. Elf Monate lang wurde verhandelt.

Die knapp vierzig Sitzungstage dauerten immer nur ein paar Stunden, oft unterbrochen von Schwierigkeiten mit dem Hörgerät Scheungrabers. Der Terminplan konnte wegen Erkrankungen des Angeklagten mehrmals nicht eingehalten werden.

Der Rentner, der im Vorfeld jede Beteiligung an dem Massaker von sich gewiesen, schwieg im Prozess. Nur auf das letzte Wort hat er nicht verzichtet und sich dabei - echt oder gespielt - empört: Er habe viele Jahre seines Lebens "für dieses sogenannte Vaterland geopfert" und müsse nun mit fast 91 auf die Anklagebank. "Das wünsche ich niemandem."

Scheungraber war jahrzehntelang ein geachteter Bürger der oberbayerischen Gemeinde Ottobrunn. Der frühere Inhaber einer Schreinerei mit mehreren Angestellten hat zwanzig Jahre lang dem Gemeinderat angehört, ist Träger der Bürgermedaille und Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr. Dass er regelmäßig an Treffen alter Kameraden teilnimmt, dass er sich vor einem früheren Mitarbeiter mit seinen Kriegserlebnissen gebrüstet haben soll, macht ihn vielen nicht sympathisch. Ein Beweis für seine Schuld ist es nicht.

Von denen, die aus Scheungrabers Kompanie noch am Leben sind, hat ihn keiner den Befehl für das Massaker geben hören. Ob die Zeugen als damals Beteiligte die Wahrheit gesagt haben, wie gut ihr Erinnerungsvermögen nach mehr als sechs Jahrzehnten noch ist, vermag wohl niemand zu beurteilen.

Umso mehr berührte die Schilderung des einzigen Überlebenden des damals gesprengten Hauses, doch zur Frage der Schuld des Angeklagten konnte der damals 16 Jahre alte Zeuge nichts sagen.

Erschüttert hörte man die Erinnerungen von Angehörigen der Opfer, die deren Anwältin vorlas. Es wurde sehr anschaulich, wie grauenhaft das Verbrechen war und wie es bis in die heutige Zeit fortwirkt.

Ein Militärgericht im italienischen La Spezia war sich der Schuld Scheungrabers sicher. Es verurteilte ihn im September 2006 in Abwesenheit wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Die Strafe musste der Rentner nicht antreten, weil die Justiz den deutschen Staatsbürger nicht auslieferte.

Doch die Münchner Staatsanwaltschaft leitete eigene Ermittlungen ein, erhob im Januar 2008 eine Mordanklage, von deren Richtigkeit sie nach der Beweisaufnahme überzeugt ist. Ihr Antrag lautet auf lebenslange Haft. Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert. Der Richter folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft.

Scheungraber wendet sich nach dem Urteil ab und verlässt den Gerichtssaal aus einem Nebenausgang in Richtung Tiefgarage. Die Hinterbliebenen der Opfer gehen durch den Hauptausgang. Dort werden sie von Demonstranten empfangen, die Plakate hochhalten, auf denen die Namen der Opfer von Cortona geschrieben sind.

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