Giuliano-Josef Kollmann ist auf der Hanauer Straße in Moosach unterwegs. Es ist der 22. Juli 2016, 17.53 Uhr. Ob er den fast gleichaltrigen jungen Mann mit dem seltsam wackelnden Gang noch gesehen hat, der gerade aus dem McDonald's gekommen ist? Ob er die Schreie gehört hat, ob er noch weglaufen wollte? Es knallt, noch einmal, und wieder, insgesamt fünfmal. Fünf Projektile des Kalibers 9 mal 19 Millimeter schlagen von hinten in den Körper des 19-Jährigen ein. "Giuli", wie ihn sein Vater und seine Fußballkumpel vom FC Aschheim nennen, erstickt. Giuliano, ein Münchner Junge aus dem Hasenbergl, wird Rechtsanwalt Onur Özata in seinem Plädoyer ihn nennen. Beim Fußballtraining, in der Kabine, da mochten sie seine leise Art, mit der er sie zum Schmunzeln und zum Lachen brachte. Zwei Tage nach den Schüssen vom Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) schreibt Giulianos Cousin: "Wir alle haben unser Lachen verloren und keine Freude mehr am Leben."
In Auschwitz ermordeten die Nazis sieben Mitglieder der Sinti-Familie Kollmann
Mehr als 100 Stunden saß Giulianos Großmutter seit Ende August im Gericht dem Mann gegenüber, ohne dessen Zutun als Lieferant der Mordwaffe - davon sind die Angehörigen der Ermordeten überzeugt - ihre Söhne, Töchter, Geschwister, Enkel noch am Leben wären. Giulianos Großmutter hat versucht, Philipp K., dem inzwischen 33 Jahre alten Waffenhändler, in die Augen zu schauen. Vielleicht würde sein Gesicht, vielleicht würde er, vielleicht würde der Prozess ja Antwort geben auf die Frage, die neun Münchner Familien seit jenem 22. Juli 2016 nicht zur Ruhe kommen lässt: Warum?
Der Prozess ist am Freitag zu Ende gegangen. Wegen fahrlässiger Tötung muss Philipp K. sieben Jahre ins Gefängnis, urteilte das Münchner Landgericht. Nach Überzeugung des Gerichts hätte K. die Waffe nicht verkauft, wenn er gewusst hätte, dass S. damit Menschen wie Giuliano Kollmann ermorden würde.
Folgt man der offiziellen Einschätzung dessen, was sich damals rund ums OEZ zugetragen hat, dann war der 19-Jährige ein Zufallsopfer - so wie die anderen acht Todesopfer. Ihr Mörder, der 18 Jahre alte David S., der seinen Geburtsnamen Ali abgelegt hatte, weil der ihm so "billig" vorkam, war nach dieser Lesart ein Amokläufer, der sich mit seiner Tat für angeblich jahrelanges Mobbing in der Schule rächen wollte.
Doch Giuliano starb nicht, weil er mit dem Mobbing etwas zu tun hatte. Er starb auch nicht, weil ein Amokläufer blindwütig um sich schoss. Giuliano Kollmann, der Junge vom Hasenbergl, starb, weil er für David S. - den Sohn iranischer Eltern, der stolz darauf war, "Arier" zu sein und denselben Geburtstag zu haben wie Adolf Hitler -, weil er für ihn ein "Kanacke" war. Und von denen wollte David S. "ein paar abknallen". Das hatte er nur vier Tage zuvor in Marburg dem Mann erzählt, der sich "Rico" nannte und der ihm die Pistole vom Typ Glock 17 verkauft hatte, nach der S. so lange gesucht hatte. Er werde doch wohl "keinen Scheiß" machen, soll Philipp K., damals 31 Jahre alt, gefragt haben. Um dann noch zwei Handvoll Projektile auf die 350 Schuss draufzulegen, die David S. sich gerade noch hatte leisten können.
"Warum?" Diese Frage hörte auch die Familie Kollmann in der Nacht nach Giulianos Ermordung. Warum ihr Enkel dort gewesen sei, wollten Polizisten wissen, was Giuliano denn am OEZ zu suchen gehabt habe. Vielleicht waren die Beamten übermüdet, mitgenommen von einer Nacht, wie München sie noch nicht erlebt hatte. Vielleicht wollten auch sie auf ihre Art eine schnelle Antwort haben auf die Frage nach dem Warum. Darauf, warum sie und ihre Kollegen in dieser Nacht neunmal verzweifelten Eltern eine Todesnachricht überbringen mussten. Für Giulianos Familie aber war die Frage, die ihnen die Beamten "entgegenbellten", kein Versuch der Aufklärung. Sie war ein Vorwurf.
"Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Tat am Olympia-Einkaufszentrum rassistisch und fremdenfeindlich motiviert gewesen ist."
Die Familie Kollmann kennt diese Vorwürfe. Und sie hat erlebt, woher sie rühren und wohin sie führen können. "Die Zigeuner (...) neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist." Die das schrieben, waren Deutschlands oberste Richter. Und sie schrieben es im Jahr 1956. Es dauerte sechs lange Jahrzehnte, ehe die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, das Einzige sagte, was zu diesen Sätzen zu sagen ist: dass sie sich für diese Worte ihrer Vorgänger schäme. Es ist derselbe Bundesgerichtshof, der über eine Revision des Münchner Urteils zum OEZ-Anschlag entscheiden wird. Eine solche zu beantragen, kündigte am Freitag bereits Opferanwalt Yavuz Narin an.