Untersuchung:München ist Hauptstadt der Raser

  • In München fährt fast jeder sechste Auto- und Motorradfahrer zu schnell.
  • Die Unfallforschung hatte 2014 und 2015 bereits ähnliche Messungen in Berlin und Köln vorgenommen.
  • Demnach halten sich die Münchner deutlich seltener an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Von Marco Völklein

Wenn Siegfried Brockmann verdeutlichen will, was ein Autofahrer anrichten kann, der zu schnell unterwegs ist, dann lässt er ein kurzes Zeitraffervideo laufen. Es zeigt einen Fußgängerdummy, der von einem Auto mit Tempo 50 angefahren wird. "Achten Sie auf die unteren Extremitäten", sagt Brockmann, und man sieht, wie das Auto dem Dummy die Beine zerschmettert.

"Vermutlich wird er nie wieder laufen können", sagt der Unfallforscher. "Sofern er das Ganze überlebt." Denn schon im nächsten Moment knallt der Kopf des Dummys mit voller Wucht in die Frontscheibe. Brockmann sagt: "Das zeigt, dass zu schnelles Fahren eben kein Kavaliersdelikt ist."

Brockmann leitet das Institut für Unfallforschung der Versicherungswirtschaft in Berlin. Sein Auftrag ist es, Unfälle zu vermeiden, "vor allem die schweren Unfälle", wie er sagt. Denn die verursachen hohe Schäden, die Versicherer müssen entsprechend viel Geld aufwenden. Deshalb nimmt Brockmann unter anderem die Raser ins Visier.

"Damit ist München die Metropole der Temposünder"

Im April dieses Jahres schickte er in München seine Leute los. Über mehrere Wochen installierten die Verkehrsforscher an insgesamt 49 Straßen im gesamten Stadtgebiet Messgeräte, um zu ermitteln, wie schnell die Münchner tatsächlich durch die Stadt kurven. Die kleinen grauen Kästen dürften kaum jemandem aufgefallen sein - im Gegensatz zu mobilen Blitzeinheiten der Polizei oder der Stadt. "So haben wir ein wirklichkeitsnahes Bild, wie schnell die Autofahrer tatsächlich unterwegs sind", sagt Brockmann.

Das erste Ergebnis: "Die meisten Autofahrer halten sich an die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung", sagt der Unfallforscher. Und schiebt dann gleich ein großes Aber hinterher: Denn auf den Straßen, auf denen Tempo 50 erlaubt ist, fahren 16 Prozent schneller als 55 Kilometer pro Stunde, also etwa jeder Sechste. "Damit ist München die Metropole der Temposünder", sagt Brockmann. In Köln waren nur zwölf Prozent der Fahrer schneller als erlaubt, in Berlin sogar nur vier Prozent. Für andere Kommunen liegen noch keine Vergleichswerte vor. Die Unfallforscher klappern mit ihren Messgeräten die deutschen Großstädte erst nach und nach ab.

Noch schlimmer sieht es in Tempo-30-Zonen aus: Da sind in München 37 Prozent der Fahrer mit mehr als 35 Stundenkilometern unterwegs, 16 Prozent haben sogar mehr als 40 auf dem Tacho. In Köln fahren in den 30er-Zonen zwölf Prozent schneller als 40 Stundenkilometer, in Berlin sind es knapp neun Prozent. Rechnet man alle von den Forschern im April in München gemessenen Tempoverstöße zusammen, kommt eine Bußgeldsumme von fast 1,9 Millionen Euro zusammen, zudem gibt es gut 2100 Punkte in Flensburg und 365 Monate Fahrverbot.

Warum sind die Berliner disziplinierter als die Münchner? "Eine genaue Erklärung habe ich nicht", sagt Brockmann. Aber eine Vermutung: Viele Autofahrer machten bei der Wahl des Tempos insgeheim eine Rechnung auf, das sei "eine Arithmetik aus Entdeckungswahrscheinlichkeit und Bußgeldhöhe".

Anscheinend sei die Wahrscheinlichkeit, in München bei einem Tempoverstoß erwischt zu werden, relativ niedrig, sagt Brockmann. Und selbst wenn man ertappt werde, seien die Bußgelder zu gering. "Viele Verkehrsteilnehmer preisen das von vorneherein ein." Die Gasfuß-Fraktion könne man daher nur mit "einem konstanten Kontrolldruck und einer veränderten Bußgeldstaffel" ausbremsen.

Zu wenig Bußgeld für Temposünden

Wer zum Beispiel in einer Tempo-30-Zone mit 50 Stundenkilometern geblitzt wird, zahlt 35 Euro Bußgeld. "Das ist zu wenig", findet Brockmann - und verweist auf sein Zeitraffervideo mit den splitternden Dummy-Knochen. Trete ein Kind 15 Meter vor dem Auto überraschend auf die Straße, komme ein Fahrer mit Tempo 30 gerade noch rechtzeitig vor dem Kind zum Stehen.

Sei der Autofahrer dagegen mit Tempo 50 unterwegs, knalle er bei gleicher Entfernung nahezu ungebremst in das Kind. Allein wegen des längeren Reaktionsweges habe der Tempo-50-Fahrer "schon fast 17 Meter zurückgelegt, bevor er überhaupt einmal anfängt zu bremsen", sagt Unfallforscher Brockmann.

Auch Polizei und städtische Verkehrsüberwacher kennen diese Zusammenhänge - und halten deshalb den Kontrolldruck aufrecht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt sogar: "Überhöhte Geschwindigkeit ist der Killer Nummer eins im Straßenverkehr." Kritiker finden, der Freistaat könnte deutlich mehr kontrollieren - oder den Kommunen zumindest mehr freie Hand lassen bei der Blitzerei.

So überwachen in Baden-Württemberg an vielen Ortseingängen feste Radaranlagen die Geschwindigkeiten. In Bayern dagegen betreiben lediglich die Stadt München einen fest installierten Blitzer (an der Tegernseer Landstraße) und die Stadt Neu-Ulm vier Anlagen an der B 10.

Verkehrsunfälle und Zahl der Verkehrstoten reduzieren

Hermanns Ziel ist es, bis 2020 die Zahl der Verkehrsunfälle deutlich zu reduzieren, ebenso die Zahl der Verkehrstoten. Erste Rückgänge sind bereits zu verzeichnen: So kamen im Jahr 2013 in Bayern noch 200 Menschen ums Leben, weil Autos oder Motorräder zu schnell unterwegs waren. Diese Zahl sank im Jahr 2014 auf 193, im vergangenen Jahr sogar auf 177. Diesen Trend will Herrmann fortsetzen.

So hatte der Minister im Frühjahr 2014 etwa an der A 99 bei Aschheim einen neuen "Superblitzer" in Betrieb genommen. Der überwacht aus der Schilderbrücke heraus alle Spuren und unterscheidet Pkw und Lkw - was hilfreich ist, wenn unterschiedliche Höchstwerte vorgegeben sind, also beispielsweise Tempo 80 für Laster und Tempo 100 für Pkw. Die Bilder seien "kontrast- und konturenreich", heißt es nun aus Herrmanns Ministerium, "das erweist sich bei der Identifizierung der Fahrzeugführer als großer Vorteil".

Deshalb hatte der Freistaat auch nicht lange gefackelt und bereits im August 2014 eine weitere Anlage an der A 8 am Irschenberg installiert. Im April dieses Jahres hatte der Minister zudem wieder einen "Blitzmarathon" ausgerufen: 24 Stunden lang schwärmten Polizisten aus, um Autofahrer an die Einhaltung der Höchstgeschwindigkeiten zu erinnern.

Pech für Herrmann, dass zu dieser Zeit auch Brockmanns Unfallforscher unterwegs waren. "So konnten wir prüfen, ob der Blitzmarathon wirkt." Das Ergebnis ist ernüchternd: So fuhren etwa in der Wasserburger Landstraße (dort gilt Tempo 50) am Tag vor dem Marathon 26 Prozent der Fahrzeuglenker schneller als 55 km/h. Am Marathon-Tag selbst lag der Wert bei 16 Prozent. "Schon am Tag danach wurde mit 23 Prozent fast der Ausgangswert erreicht", sagt der Forscher. "Auf die faktisch gefahrenen Geschwindigkeiten hat der Blitzmarathon also keine Auswirkungen."

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