Untergiesing im Wandel:Boazn-Blues

Untergiesing im Wandel: Andrea Nisch hat Ende Januar das sympatische Lokal "Sommer" eröffnet.

Andrea Nisch hat Ende Januar das sympatische Lokal "Sommer" eröffnet.

(Foto: Robert Haas)

Untergiesing verändert sich, doch wird aus dem Arbeiter- wirklich ein Szeneviertel? Fest steht: Hippe Bars eröffnen und sind jeden Abend voll, während in den Boazn die Wirte ums Überleben kämpfen. Und jetzt hat auch noch die FDP ein Bürgerbüro eröffnet.

Von Anna Fischhaber

Käsereiben verbreiten warmes Licht. Statt Lampenschirmen baumeln Küchenutensilien mit Glühbirnen von der Decke, auf den Holztischen stehen frische Tulpen. Es ist Montagabend, dennoch ist das "Sommer" voll. Gäste mittleren Alters sitzen in dem neuen Lokal vor ihrem getrüffelten Pilzrisotto. Die Speisekarte erklärt auf einer ganzen Seite das Konzept von biologischem Anbau und artgerechter Tierhaltung.

Nur ein paar Meter entfernt steht Doris Baylacher im Halbdunkel und kann die Tränen nur mühsam zurückhalten. Wehmütig blickt sie sich um. Blickt auf die Fenster, vor denen weiß-blaue Fahnen hängen, auf die Spielautomaten, die vergilbten Filmplakate mit den Piraten. An der Bar sitzen zwei Männer, den Blick fest auf ihr Bier gerichtet. Hinter der Bar wartet Baylacher, auf ihrem T-Shirt prangt ein Hundekopf, ihre Haare sind blondiert, ihre Laune ist schlecht. Es steht nicht gut um ihr "Captain Jack".

Das Sommer und das Captain Jack trennen Welten - und doch stehen beide für Untergiesing. Für das Viertel, dem schon lange der Aufstieg zum Szeneviertel prophezeit wird. Oder eben der Absturz, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet.

Untergiesing im Wandel: Die Boazn "Captain Jack" kämpft ums Überleben.

Die Boazn "Captain Jack" kämpft ums Überleben.

(Foto: Robert Haas)

Für Baylacher ist es ein Absturz. Ihre Boazn steht kurz vor der Insolvenz, die Pacht ist zu hoch. Zudem wurde gerade die Miete für ihre Wohnung um zwanzig Prozent erhöht. Früher sei Untergiesing ein Dorf gewesen, da sei jeder für den anderen da gewesen, erzählt Baylacher. Damals seien viele Arbeiter auf ein Bier zu ihr gekommen. Vor zwei Jahren wurde das Haus samt Kneipe verkauft. Der neue Vermieter wollte kein Pilspub mehr, nun ist dort ein Schuhladen. Baylacher hat ein paar Türen weiter wiedereröffnet. Doch den neuen Nachbarn sind die Raucher zu laut, immer wieder ruft jemand die Polizei. Doch wie zwingt man alkoholisierte Gäste zur Ruhe? "Wir sind doch keine Milchbar", sagt die Wirtin entrüstet.

"Im Viertel gibt es so viele Künstler. Und so wenige Lokale", findet Sommer-Chefin Andrea Nisch. Ihr Lokal entspricht dem Zeitgeist, hier trifft bio auf schlichtes Design. Natürlich sind es eher die Zugezogenen, die zu ihr kommen. Als Szenetreff will Nisch ihr neues Lokal aber nicht verstanden wissen. Sie mag das Bodenständige, das Unaufgeregte an Untergiesing. "Es ist nicht so hysterisch hier wie in den In-Vierteln", sagt sie. Und dass das Sommer einladend wirkt, einladender als viele Boazn in Untergiesing, kann man dem Lokal schlecht vorwerfen. Höchstens, dass es Teil der Veränderungen im Viertel ist.

"Wir können ja keine Käseglocke über Untergiesing stülpen"

Einige Monate vorher hat gegenüber das "Bald Neu" eröffnet. Es will Filterkaffee in München salonfähig machen und wird von Hipstern überrannt. Ein paar Meter weiter gibt es seit einigen Jahren das "Charlie", ein Vietnamese, der als Vorbote der Gentrifizierung in Untergiesing gilt. Auch hier wird Wert auf Industrieschick gelegt. Im Keller residiert ein Klub, der erste in Untergiesing.

In der Humboldtstraße, wo Untergiesing auf die Au trifft und die Boazndichte noch hoch ist, hat kürzlich das "Miss Lilly's" eröffnet. Mit Rüsch und Plüsch, Kuchen und Burger, Kugellampen und weißen Polstern. Und zahlreichen Müttern mit teuren Kinderwagen.

Zwei Jahre ist es her, dass sich die Aktionsgruppe Untergiesing gegründet hat. Damals musste die Burg Pilgersheim schließen, das Stammlokal im Viertel. Es gab zahlreiche Demos gegen die Gentrifizierung. Inzwischen hat die öffentliche Erregung nachgelassen. Hat man sich mit dem neuen Untergiesing abgefunden? "Das Viertel verändert sich, das ist normal", sagt der Vorsitzende Maximilian Heisler. Und gegen eine neue Kneipe könne man nichts tun. Noch dazu, wenn sie voll ist. "Wir können ja keine Käseglocke über Untergiesing stülpen", sagt Heisler und klingt fast ein wenig traurig.

FDP eröffnet Bürgerbüro

Gegen die Investoren allerdings will man sich weiter wehren. Heisler kann sofort einige Häuser aufzählen, in denen gerade wieder die Miete erhöht wurde. Aber die neuen Bewohner zwingen, in eine wenig einladende Boazn zu gehen? Das kann und will auch er nicht.

Es hat sich etwas getan in Untergiesing, das steht fest: Die kleinen Häuschen gibt es noch, und den verstaubten Modelleisenbahnladen nur für Mitglieder. Der Hans-Mielich-Platz allerdings wurde gerade aufwendig saniert, nun kann man dort flanieren. Direkt neben dem Sexshop in der Humboldtstraße verkauft ein Dauer-Flohmarkt neuerdings hippes Selbstgemachtes.

Die Fahrrad- und Hundeläden werden immer mehr, die Kreativbüros im Viertel kann längst niemand mehr zählen. Und selbst manche Alteingesessene scheinen sich zu verändern. Wie der Getränkehändler, der früher Bier kistenweise verkauft hat. Heute ist es vor allem Wasser. Für die neue Kundschaft hat er ein Weinregal eingerichtet und sogar ein Weinseminar besucht.

Auch die Bayernpartei ist längst weggezogen, stattdessen residiert seit Dezember ausgerechnet die FDP im einstigen Arbeiterviertel Untergiesing. "Freiraum" heißt das schicke Bürgerbüro in gelb und blau, das meist leer ist und ziemlich exotisch wirkt in der Humboldtstraße. Mehr noch als das Miss Lilly´s gegenüber. Oder eben das sympathische Sommer.

Doch vielleicht macht genau das das neue Untergiesing aus. Dass Selbstgemachtes und Sexshop, FDP und Obdachlosenheim, Kreativbüros und Boazn nebeneinander existieren. Im Fall von Sommer und Captain Jack könnte das bald nicht mehr so sein.

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