Universität München:Auf der Jagd nach der Weltformel

Universität München: Thomas Carell ist den Bausteinen der DNA auf der Spur. Er will den dynamischen Code der Moleküle knacken, um zu verstehen, wie vor 3,5 Milliarden Jahren das erste Leben entstanden ist.

Thomas Carell ist den Bausteinen der DNA auf der Spur. Er will den dynamischen Code der Moleküle knacken, um zu verstehen, wie vor 3,5 Milliarden Jahren das erste Leben entstanden ist.

(Foto: Privat)

Der Chemiker Thomas Carell ist dem Ursprung des Lebens auf der Spur. Seine Forschung könnte eines Tages helfen, Krebs zu besiegen. Die LMU baut deshalb ein 40 Millionen Euro teures Laborgebäude.

Von Martina Scherf

Thomas Carell sitzt im roten Poloshirt in seinem Büro in Großhadern und zeichnet Moleküle auf ein Blatt Papier. Für einen Chemiker besteht die Welt aus Formeln, und letztlich lässt sich ja fast alles mit Chemie erklären, der menschliche Körper ebenso wie die Bausteine des Universums. Doch ein paar Rätsel sind noch geblieben, und an deren Lösung arbeitet der Professor für Organische Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Sein Spezialgebiet ist die DNA, der genetische Code in den Zellen, und seine Erkenntnisse können Meilensteine für die Medizin bedeuten. Womöglich würden sie eines Tages dazu beitragen, dass Krebs geheilt, Depressionen oder Diabetes verhindert werden könnten - sie könnten aber auch die uralte Menschheitsfrage beantworten: Wie ist das erste Leben entstanden?

Thomas Carell, 52, zeichnet also mit spitzem Bleistift Buchstabenketten auf das Blatt. Die DNA besteht aus vier Basen, soweit reicht das Schulwissen noch: ATGC. Und jede menschliche Zelle enthält den gleichen Bauplan aus Ketten dieser vier Moleküle. Was weniger bekannt ist: Es gibt noch weitere Basen und mehr als 120 Varianten von ihnen.

Sind sie dafür verantwortlich, dass sich im Embryo unterschiedliche Zellen entwickeln? Und wie funktioniert dieses Informationssystem genau, das den Zellen sagt, dass sie Blutkörperchen, Augen oder Fußnägel bilden sollen? Man weiß inzwischen auch, dass Gene zeitweise stillgelegt und dann wieder aktiviert werden - spielen womöglich sogar Umwelteinflüsse eine Rolle in der Veränderung der Erbsubstanz?

Epigenetik heißt dieses Forschungsgebiet in der Fachsprache, und vieles darin ist noch Spekulation, sagt Carell. Doch seine Forschergruppe an der LMU ist den Geheimnissen schon ein ganzes Stück näher gekommen. Und wenn man eines Tages den dynamischen Code geknackt und verstanden hat, woher die Zellen ihre Informationen bekommen, dann gibt es vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: Wie haben sich vor 3,5 Milliarden Jahren aus der Ursuppe der Elemente die ersten Organismen entwickelt?

In der Suche nach dieser Weltformel liefern sich Wissenschaftler rund um den Globus ein Wettrennen. Thomas Carell läuft darin in der ersten Liga. Alle paar Wochen fliegt der Chemiker, der mit einigen der höchsten Wissenschaftspreise ausgezeichnet ist, nach Schanghai, Singapur, Tokio oder New York, hält Vorträge und tauscht sich mit Kollegen über den jeweiligen Forschungsstand aus. "Da kommt einiges an Reisekosten zusammen", sagt er, "aber niemand würde seine Berichte ins Internet stellen, das ist viel zu unsicher." Man muss genau wissen, wem man vertrauen kann.

Wie beim Sport kommt es auch in diesem Langstreckenlauf auf Etappenziele an. "Manche Kollegen kooperieren und sagen: Wir sind ein halbes Jahr weiter als ihr, aber wir warten noch ein paar Wochen, bis ihr Ergebnisse habt, und veröffentlichen dann gemeinsam einen Bericht", erzählt der Forscher. Andere würden sich dagegen alles anhören und kein Wort dazu sagen. Es geht ums Renommee und um viel Geld. "Deshalb ist es wichtig, dass man abends noch ein Bier zusammen trinkt und sich gut kennt."

Thomas Carell ist kein stiller Grübler, vielmehr ein fröhlicher Mensch, ein Wissenschaftler, Motivator und Manager in eigener Sache, der Dinge gerne offen anspricht. Seine Universität stellt ihm und seiner 30-köpfigen Forschergruppe jetzt ein eigenes Gebäude mit nagelneuen Laboren hin, Bund und Land investieren dafür fast 40 Millionen Euro.

Vor Kurzem war Grundsteinlegung, zur Feier des Tages trug Thomas Carell eine rote Fliege und schüttelte der neuen bayerischen Wissenschaftsministerin nach dem obligatorischen Spatenstich die Hand. Das Institut wird ein weiterer Hightech-Baustein auf dem LMU-Campus Martinsried-Großhadern, der schon heute als eine der weltweit ersten Adressen für Natur- und Lebenswissenschaften gilt.

Thomas Carell ist nicht gut auf die deutsche Bildungspolitik zu sprechen

Die epigenetische Chemie, die Carell mit seinen Mitarbeitern dort betreibt, bringt nicht nur die Grundlagenforschung entscheidend voran. Vielmehr ist auch die Medizin- und Pharmaindustrie höchst interessiert an den Ergebnissen. Einige Firmen haben sich längst rund um den Campus angesiedelt. Im besten Fall lassen sich gemeinsam mit den Wissenschaftlern neue Diagnoseverfahren oder Medikamente entwickeln.

Der Roche-Konzern oder die BASF, sie alle finanzieren Projekte und kaufen immer wieder Lizenzen von der Universität, manchmal für Millionenbeträge. "Das kommt unserer Forschung zugute - aber meine Ideen kriegen sie nicht", betont Carell, die Patente bleiben bei der LMU. Nur einmal hat er eine Ausnahme gemacht und schon vor Jahren gemeinsam mit der BASF eine eigene Firma gegründet, die ein Patent im Zusammenhang mit der DNA-Analyse hält. Interessenskonflikt? "Überhaupt nicht", sagt er, zu den Kunden gehöre nicht seine eigene Universität. "Die Forschung steht immer im Vordergrund."

"Als Vater von vier Kindern kenne ich sämtliche Einrichtungen von innen - Kindergärten, Schulen, Hochschulen"

Weil das so ist, und weil sie sich mit ihrer Proteinforschung an der LMU einen Platz in der internationalen Spitzengruppe erarbeitet haben, ist Thomas Carell derzeit nicht gut auf die deutsche Bildungspolitik zu sprechen. Zehn Jahre lang war er Sprecher des Exzellenzclusters CIPS-M, in dem Chemiker, Biologen, Mediziner von LMU, TU München und Helmholtz-Zentrum gemeinsam geforscht haben. Doch jetzt ist die Fortsetzung der Finanzierung unsicher. Seine eigene Gruppe bekommt zwar das neue Gebäude, "aber zugleich muss die LMU-Chemie zehn Stellen streichen, das macht doch überhaupt keinen Sinn." Die Enttäuschung ist deutlich zu spüren.

Deutschland und seine Bildung, bei diesem Thema wirkt der freundliche Professor tatsächlich ziemlich entnervt. "Als Vater von vier Kindern kenne ich sämtliche Einrichtungen von innen - Kindergärten, Schulen, Hochschulen - und die Mangelverwaltung ist wirklich unfassbar. Es scheint, als ob sich die Politik zuallerletzt um die Zukunft unseres Nachwuchses kümmere." Die halbherzigen Reformen, der Zick-Zack-Kurs wie jüngst beim achtjährigen Gymnasium, der Lehrermangel, das verschulte Bologna-Studium - "das Ganze ist ein Dauerexperiment an unseren Kindern".

Er selbst wusste früh, wo es lang geht: Schon als Junge hat er im Keller seines Elternhauses in Herford, Westfalen, versucht, mit Purpurbakterien Wasserstoff zu erzeugen. Sein Forschergeist traf auf gute Chemielehrer, sagt er, die ihm die entscheidenden Impulse gaben. "Leider ist das bis heute nur bei wenigen Lehrern der Fall. Viele können Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden und deshalb auch nicht gut erklären." Schade, möchte man hinzufügen, dass Menschen wie er, die Hochkomplexes so einfach erklären können, nicht an der Schule, sondern in der Spitzenforschung landen - aber das ist ein anderes Thema.

Carell ging damals jedenfalls zum Chemiestudium an die Uni Münster und anschließend von einer Spitzenadresse zur nächsten: Max-Planck-Gesellschaft, Massachusetts Institute of Technology, ETH Zürich, dann LMU. Heute bildet er selbst Studenten aus, und wenn sie über die vielen Prüfungen klagen, dann sagt er: Es wäre schön, wenn die jungen Leute gerade am Anfang mehr Zeit hätten, sich zu finden und kritisches Denken zu lernen.

"Aber viele haben auch einen enormen Freizeitstress. Und zählen Sie nur mal die Stunden zusammen, die sie täglich mit dem Smartphone verbringen. Ich habe mich damals halt aufs Lernen fokussiert." Wer es in seine Forschungsgruppe geschafft hat, der muss jedenfalls überdurchschnittlichen Einsatz bringen, ob als Akademiker oder als Laborant. "Die Chinesen arbeiten sieben Tage die Woche, da können wir nicht Dienst nach Vorschrift machen."

Doch jetzt ist erst mal ein privater Termin dran: "Ich will unseren jüngsten Sohn im Krankenhaus besuchen." Der jüngste ist ein Flüchtlingsjunge aus Guinea, drei Jahre hat er bei Familie Carell gewohnt. Sie hätten viel über Afrika und Europa, über Integration und Demokratie diskutiert, sagt der Professor, er sei ein aufgeweckter junger Mann, der in Kürze eine Lehre beginnen wird. Und Thomas Carell sitzt in wenigen Tagen wieder im Flieger nach New York. Er freut sich schon darauf. Der Wettlauf geht weiter.

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