Süddeutsche Zeitung

Übersetzer:Zaungast mit Einfluss

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Als Kulturvermittlerin zwischen Ungarn und Deutschland hat Agnes Relle, ausgezeichnet mit dem Übersetzungspreis der Stadt München, ihre Lebensaufgabe gefunden.

Von Antje Weber, München

"Zaungast" - ausgerechnet dieser Begriff fällt Agnes Relle ein, wenn sie über sich redet. Sofort möchte man ihr widersprechen. Ist diese hellwache, vielfältig engagierte Übersetzerin nicht immer wieder mitten im Geschehen zu finden? Doch Agnes Relle sieht es so: Für sie sitzt ein Zaungast, wörtlich genommen, auf einem Zaun "und schaut mal auf die eine Seite, mal auf die andere". Auf keine Seite gehört er ganz, "er ist immer dazwischen". Und das passt für diese Kulturvermittlerin dann doch ganz ausgezeichnet.

Denn sie will "Brücke sein" zwischen Ungarn und Deutschland, zwischen den Kulturen und Sprachen. D ass die Lebensaufgabe der 62-Jährigen in diesem Jahr mit dem Übersetzungspreis der Stadt München gewürdigt wird, gebe ihr großen Auftrieb, sagt sie in Budapest, wo man sie digital auf ein langes Gespräch trifft. Denn Relle pendelt seit einigen Jahren zwischen München, ihrer "Zentrale", und Budapest, wo sie im achten Bezirk wohnt - einem Bezirk "voller sozialer Spannungen und Aufbruch", wie sie erzählt. Beides, die Spannungen und der Aufbruch, scheinen nicht nur in ihrer Biografie immer wieder auf, sie prägen auch in einer Zerreißprobe das heutige Ungarn.

Wie Agnes Relle in ihre Rolle als Übersetzerin und Kulturvermittlerin hineingewachsen ist, versteht man am besten anhand ihrer Biografie. Sie stammt aus einer ungarischen Familie, in der das abgründige 20. Jahrhundert "knüppeldick und exemplarisch" vertreten sei, sagt sie; derzeit recherchiert sie Details der Familiengeschichte, um sie aufzuschreiben. Sie mündete in einer "dramatischen Flucht" der Eltern nach dem Ungarn-Aufstand 1956. Agnes Relle wurde drei Jahre später in Stuttgart geboren und wuchs in Erlangen auf, zwischen den Kulturen: Das Deutsche war "die Sprache der Außenwelt", in der Relle "das Denken lernte", wie sie sagt. Dass sie im Gymnasium in den Siebzigerjahren Anna Seghers und Peter Weiss lesen, sich der Sprache in Diktaturen bewusst werden konnte, "dafür bin ich meiner deutschen Heimat sehr, sehr dankbar".

Die Aufklärung im umfassenden Sinn ist zu ihrem Lebensthema geworden

Zuhause jedoch wurde Ungarisch gesprochen, "das war meine innere Sprache", und überhaupt waren Budapest und Ungarn für sie immer "der verzauberte Ort der Sehnsucht, ein Mythos". Nach einem prägenden Jahr in Paris und geisteswissenschaftlichem Studium in München zog sie 1987 schließlich an den Sehnsuchtsort - es waren die turbulenten Wendejahre, und Relle kann anschaulich von den großen Demonstrationen erzählen, an denen sie damals selbst teilnahm. Dass sie bald am neu eröffneten Goethe-Institut arbeitete, erscheint nur folgerichtig. Dass sie außerdem an der Budapester Uni ELTE unterrichtete, prägte sie tief: "Literatur der Aufklärung" sollte sie den Studenten beibringen; die seien klug und belesen gewesen, sagt sie, aber Textanalyse, selbständiges Denken hatten sie nicht gelernt. Welche Auswirkungen es hat, wenn Menschen nur "autoritäre Denkmechanismen" kennen, wurde ihr damals noch stärker bewusst - und die Aufklärung im umfassenden Sinne ist zu ihrem Lebensthema geworden.

Einfach war und ist das nicht. In den Neunzigerjahren - Relle war vor der Geburt ihres ersten von zwei Kindern samt ungarischem Mann wieder nach München gezogen -, lenkte die Diagnose MS ihr Leben in andere Bahnen. Als die Krankheit sie in den Rollstuhl zwang, rückte ein Leben in Budapest zunächst in weite Ferne. Relle fing mit dem Übersetzen an, hat seither die Werke so unterschiedlicher Schriftsteller wie Imre Kertész, László Márton, Noémi Kiss oder Ferenc Fejto zum Klingen und Schwingen gebracht. Ob das Ungarische, das zu den finno-ugrischen Sprachen gehört, nicht besonders schwierig sei? "Ein Märchen" sei das, winkt sie ab, "es ist nur einfach ganz anders". Das Deutsche sei eine genaue und klare Sprache, die dazu zwinge, über die Artikel "der, die, das" immer die Bezüge festzulegen: "Man kann einen Text im Deutschen nicht schweben lassen." Im Ungarischen schon. Das lasse für "Unschärfen Raum", wie Relle 2016 in dem sehr feinen Horen-Band "Von der unendlichen Ironie des Seins. Ungarische Ungereimtheiten" beschrieben hat.

In diesem Band brachte sie, wie schon in einem Vorgängerband 1999, den deutschen Lesern die ganze Vielfalt der ungarischen Literaturszene nahe. Sie benannte in einem noch heute sehr lesenswerten Vorwort zudem klar die Probleme einer "zutiefst gespaltenen und zerrütteten Gesellschaft"; Probleme, die sich seither noch verschärft haben, wie sie bestätigt. Politisch und sozial hochreflektiert, erzählt sie von dem - tatsächlich in Ungarn mit dem deutschen Wort bezeichneten - "Kulturkampf" unter der Fidesz-Regierung Viktor Orbáns, vom Druck auf die Literatur- wie die ganze Kulturszene, der sich in Corona-Zeiten noch verschärft hat. Sie beschreibt das große Gefälle Stadt-Land und steigende entsetzliche Armut, insbesondere der Roma, doch zunehmend auch der Mittelschicht. Und sie analysiert luzide nicht nur die konservativen Rollenmuster einer "bis heute sehr patriarchalen Welt", sondern auch die Desinformation und "Verfälschung der ungarischen Geschichte" durch einen Staat, der die Gegenwartsliteratur verbannt und Lehrbücher umschreiben lässt.

Trotz aller Misere hat sie auch Hoffnung für Ungarn. Sie setzt auf den Aufbruch der jungen Generation

Trotz aller Misere hat sie auch Hoffnung. Sie setzt auf den Aufbruch einer jungen Generation, die - ähnlich wie in Deutschland in den Siebzigerjahren - ehrlich die Geschichte aufarbeiten will, für Öffnung und Demokratie steht. Kultur hat dabei für sie die Funktion einer "Hefe". Und ihr ist bewusst: "Demokratisches Selbstverständnis fällt nicht vom Himmel, das muss hart erkämpft werden." Agnes Relle ist mit ihrem Rollstuhl wieder viel auf Demonstrationen unterwegs; sie engagiert sich - unter anderem für die Interessen von Menschen mit Behinderung. So analytisch wie warmherzig , wie diese Netzwerkerin wirkt, klingen auch Projekte wie dieses nicht unmöglich: Die Weltenwanderin, die das Reisen liebt, würde gerne mit anderen Menschen mit Behinderungen in einem Bus mal in Gegenden fahren, in denen nichts barrierefrei ist - "Präsenz zeigen!"

Spätestens hier muss man wieder an ihre Bemerkung über den Zaungast denken. Denn Relle hat sie noch ergänzt: Als Rollstuhlfahrerin, sagt sie, sei sie niemand mehr, der auf dem Zaun sitzt; sie sitze dahinter und schaue "durch die Latten hindurch". Auch da möchte man ihr widersprechen. Denn Agnes Relle schaut nicht nur durch die Latten: Sie rüttelt auch sehr kräftig an ihnen, um sie einzureißen.

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