Unfall in Trudering:"Wir bekommen keine Antworten"

Unfall Wasserburger Landstraße

Der SUV fuhr mit mindestens 122 Kilometer auf den Kleinwagen auf.

(Foto: Feuerwehr München)
  • Im vergangenen Jahr sind drei junge Menschen bei einem Autounfall an der Kreuzung Wasserburger Landstraße zur Jagdhornstraße gestorben.
  • Ein SUV raste mit mindestens 122 Stundenkilometern ungebremst in deren Wagen und katapulierte ihn 100 Meter weit über die Kreuzung.
  • Die Angehörigen der Opfer fühlen sich nun allein gelassen - viele ihrer Fragen sind bisher unbeantwortet.

Von Martin Bernstein

Nein, ein Platz des stillen Gedenkens ist es nicht. Tausende Autos fahren täglich vorbei, viele müssen an der Ampel halten. Dreispurig ist die Wasserburger Landstraße an der Kreuzung zur Jagdhornstraße: ganz rechts Parkbuchten, dann zwei Fahrstreifen geradeaus, stadtauswärts, schließlich eine Linksabbiegerspur. Und daneben ein Grünstreifen als Fahrbahnteiler: der Ort des Gedenkens. Eine Tafel, 40 mal 40 Zentimeter groß, schwarzer Granit, geschmückt mit etwas Heidekraut. Drei Namen stehen auf der Tafel: Anne-Sophie, Baptiste, Julien. "En mémoire" steht über dem eingravierten Kreuz. Zur Erinnerung. Und ein Datum: der 16. September 2017.

An jenem Tag ereignete sich einer der schlimmsten Verkehrsunfälle der vergangenen Jahre in München. Drei Menschen starben. Die Angehörigen der Toten würden das allerdings anders ausdrücken, für sie hat sich dieser Unfall nicht "ereignet" - der Zusammenstoß wurde herbeigeführt. Ihre Liebsten starben nicht - sie wurden getötet.

Ob und wann es zum Prozess gegen den Unfallfahrer kommen wird, ist auch ein Jahr nach dem Geschehen noch offen. Am 13. Juni dieses Jahres hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den 60 Jahre alten Mann aus dem Landkreis Ebersberg erhoben, über die Zulassung zum Hauptverfahren muss das Amtsgericht München entscheiden. Es geht um fahrlässige Tötung in drei Fällen, Körperverletzung und Brandstiftung. Vor der Entscheidung, welche Kammer sich mit dem Fall befassen wird, soll zunächst ein Sachverständiger den Beschuldigten begutachten. Der Fahrer hatte bis zur Anklageerhebung geschwiegen - und sich erst danach über eine anwaltliche Erklärung eingelassen. Der Sachverständiger soll auf Anregung der Verteidigung untersuchen, ob der Fahrer zum Zeitpunkt des Unfalls vermindert oder gar nicht schuldfähig war. Ein "Blackout" als Erklärung für das Unerklärliche?

Dieser 16. September vor einem Jahr, er sollte ein Freudentag sein. Ein runder Geburtstag ist zu feiern, zu dem die vier Franzosen aus ihrer Heimat angereist sind: Eine 68 Jahre alte Frau, ihr Sohn und ihre Tochter sowie deren Freund. Die drei jungen Leute sind zwischen 29 und 36 Jahre alt. Bayerische Kleidung ziehen sie an, freuen sich auf einen fröhlichen Abend.

Nur ein paar hundert Meter sind es bis zur Feier. Die Ampel an der Kreuzung zur Jagdhornstraße zeigt Rot, es ist ungefähr 19.30 Uhr. Der Opel Corsa der vier Franzosen, ein Leihwagen, hält auf der mittleren der drei Fahrspuren. Die Ampel schaltet auf Grün, der junge Mann am Lenkrad fährt an, als ein BMW X5 von hinten heranschießt. Mindestens 122, vielleicht sogar bis zu 128 Stundenkilometer schnell ist das zwei Tonnen schwere SUV.

Die Wasserburger Landstraße ist an dieser Stelle eine an beiden Seiten dicht bebaute Ausfallstraße mitten in Trudering. Ungebremst rammt der BMW den Leihwagen mit den vier Franzosen, katapultiert ihn rund 100 Meter weit über die Kreuzung. Der Opel Corsa fängt sofort Feuer, die Insassen sind in einer Flammenhölle eingeklemmt, während der Fahrer des SUV nur leicht verletzt wird. Der BMW verschiebt einen schweren Findling, ehe er sich zwischen einem geparkten Auto und einer Hauswand verkeilt.

Warum und wie lange schon ist der Unfallfahrer durch die Stadt gerast? Wieso hat er nicht auf das Auto geachtet, das auf der kerzengeraden Wasserburger Landstraße mehr als hundert Meter vor ihm gerade anrollte? Weshalb hat er nicht gebremst, nicht wenigstens versucht, in letzter Sekunde noch auszuweichen? Solche Fragen quälen die Angehörigen der Unfallopfer. "Wir bekommen keine Antworten", sagen sie. "Es ist total frustrierend." Ablenkung, etwa durch ein Handy, soll jedenfalls keine Rolle gespielt haben. Oberstaatsanwältin Anne Leiding, Sprecherin der Münchner Strafverfolger, erklärt: "Ohne zu bremsen" sei der Unfallfahrer mit seinem BMW auf das Auto der Franzosen aufgefahren, "technische Mängel oder körperliche Beeinträchtigungen sind bisher auszuschließen."

"Wir fühlen uns vom System nicht unterstützt"

Sofort sind Anwohner zur Stelle. Sie rennen zum brennenden Auto, einige haben Feuerlöscher dabei. Die Helfer können die 68 Jahre alte Französin vom Beifahrersitz des brennenden Autos zerren. Sie überlebt, wird jedoch ihr Leben lang behindert bleiben. Ihre beiden Kinder sowie der Freund der Tochter sind im brennenden Auto eingeklemmt, müssen von Einsatzkräften der Freiwilligen Feuerwehr Waldtrudering aus den rauchenden Trümmern des Opel Corsa geschnitten werden. Ihr Gerätehaus ist nur 200 Meter entfernt. Das Kriseninterventionsteam ist im Einsatz, betreut die Helfer und die Angehörigen der Opfer, die von der Geburtstagsfeier zum Unglücksort kommen und erst nach Stunden die volle, schreckliche Wahrheit erfahren. Augenzeugen berichten von fürchterlichen Brandverletzungen, ein Angehöriger sagt über eines der Opfer unumwunden: "Er ist lebendig verbrannt."

Heute, ein Jahr danach, fühlt sich die Familie der Opfer allein gelassen. Nicht von den Menschen, die an jenem Abend so selbstlos halfen, von den Anwohnern, die der Mutter das Leben retteten, von den Feuerwehrleuten, die die tote Schwester und die Sterbenden bargen. Auch nicht von den Polizisten, die bei der Aufklärung "tolle Arbeit" geleistet hätten. "Wir fühlen uns vom System nicht unterstützt", sagt der Bruder der Toten.

Das System nach solch einem Unfall wie jenem vom 16. September soll vor allem zweifelsfreie Beweise liefern, durch die Rekonstruktion des genauen Geschehens, unfallanalytische Gutachten, Untersuchungen zur gefahrenen Geschwindigkeit. Das dauert. Die traumatisierten Angehörigen haben das Gefühl, dass in diesem Ablauf für ihre Trauer, Enttäuschung und Wut kein Platz ist. Sie haben Fragen, die bisher nicht beantwortet würden. Sie sind verstört über den Tonfall juristischer Schreiben. Die ganze Verletzbarkeit bricht auf, wenn durch unsensible Unachtsamkeit ein Brief der Staatsanwaltschaft statt an die überlebende Mutter an eines der verstorbenen Opfer gerichtet ist. Sie erleben, wie die gerettete 68-Jährige und ihr traumatisierter Ehemann fürs Leben gezeichnet sind - und befürchten zugleich, dass das alles keine Rolle spielen wird, wenn es um die juristische Bewertung der Tat geht.

Nicht allein drei Todesopfer hat der Moment am 16. September 2017 gefordert. Er hat viele Leben für immer verändert.

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