Fotografie:Der Mann des Bilderuniversums

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Der Abschied von der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum fiel Ulrich Pohlmann zunächst nicht ganz leicht: "Ich bin nach 32 Jahren doch sehr mit dem Museum verwachsen." Doch nun hat er etliche Pläne für die Zukunft - und wird erst mal viel in Paris sein. (Foto: Stephan Rumpf)

Ulrich Pohlmann, Leiter der Sammlung Fotografie im Stadtmuseum München, geht in Ruhestand. Er hat den Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie miterlebt - und die Bedeutung eines berühmten 9/11-Fotos als erster erkannt. Ein Porträt.

Von Evelyn Vogel

Vermutlich hätte auch Thomas Hoepker selbst den ikonografischen Status seiner Aufnahme "Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 11. September 2001" irgendwann erkannt. Schließlich hat der inzwischen 86-jährige deutsche Magnum-Fotograf, der von 2003 bis 2007 sogar Präsident der Fotoagentur war, einen extrem gut geschulten Blick für den einen besonderen Moment, der eine Fotografie aus der Flut der Bilder hervorhebt und sie zum Eyecatcher macht. Und doch war es Ulrich Pohlmann, Kurator und bisheriger Sammlungsleiter Fotografie am Münchner Stadtmuseum, dem er die Erkenntnis verdankte.

Thomas Hoepkers Aufnahme "Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 11. September 2001" wurde zu einer Ikone der Erinnerung an die Katastrophe von 9/11. (Foto: Thomas Hoepker/Münchner Stadtmuseum)

Denn als Pohlmann in Vorbereitung einer Retrospektive Hoepkers 2005 im Münchner Stadtmuseum bei diesem auf Long Island die verschiedenen Fotos von 9/11 sichtete, erregte diese bis dahin unveröffentlichte Aufnahme seine Aufmerksamkeit. "Deren Beiläufigkeit, die Banalität der Situation faszinierte mich", erzählt Pohlmann. Und tatsächlich ist es gerade die Alltäglichkeit der Szenerie im Vordergrund, die das Grauen des terroristischen Anschlags auf die Türme des World Trade Centers im Hintergrund noch verstärkt. Erst nachdem das Foto in der Münchner Ausstellung war, veröffentlichte Hoepker es, was zu einem Bericht in der New York Times führte und es weltweit bekannt machte.

Vieles wird wie Treib- oder Strandgut an die Gestade des Museums gespült

Dass dieses Foto Eigentum der Fotosammlung des Münchner Stadtmuseums ist - ein Geschenk Hoepkers -, hat wie bei vielen anderen auch mit Pohlmanns persönlichen Beziehungen zu Fotografen oder deren Familien und Nachlassverwaltern zu tun. Vieles werde ja "wie Treib- oder Strandgut an die Gestade des Museums gespült", erzählt er. Gerade sei ihm wieder etwas aus einem Familiennachlass angeboten worden: das große Fotoarchiv des Münchner Landschaftsmalers, Friedrich Voltz.

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Aber etliches sei nur langjährigen, intensiven Verhandlungen zu verdanken. Darüber kann Pohlmann, der nun nach mehr als drei Jahrzehnten als Sammlungsleiter in Ruhestand gegangen ist, einige Geschichten erzählen. Zu den gezielten Ankäufen gehören beispielsweise die Aufnahmen des Transports der Bavaria des Fotopioniers Alois Löcherer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. "Sie galten lange als erste Fotoreportage", erzählt Pohlmann, "die Stadt stand Spalier, als die Teile von der Gießerei zur Theresienwiese gebracht wurden." Doch die Bilder waren gestellt. "Fotoreportagen waren damals technisch nicht möglich, wegen der langen Belichtungszeiten."

Der Ankauf der Sammlung Dietmar Siegert gelang Pohlmann 2014. Darin enthalten ist Joseph Alberts Aufnahme der Teilnehmer der Künstlergesellschaft Jung-München an einem Märchenball 1862. Ein Unbekannter und der Bildhauer Hermann Oehlmann stellen den Wettlauf des Igels und des Hasen dar. (Foto: Joseph Albert/Stadtmuseum/Julia Krüger)

Anfangs lag der Sammlungsschwerpunkt auf Münchner Fotografie. Mit dem Erwerb des Nachlasses von Josef Breitenbach wurde die Sammlung internationaler und viele der Aufnahmen bildeten Emigrantengeschichten ab. So war es auch mit dem Nachlass von Hermann Landshoff, der frühe Modefotografie gemacht hatte und Lehrer von Richard Avedon war. Bei einer Buchvorstellung lernte Pohlmann den Verleger Andreas Landshoff aus der Familie von Hermann Landshoff kennen.

Hermann Landshoff: Die Surrealisten (hintere Reihe: Jimmy Ernst, Peggy Guggenheim, John Ferren, Marcel Duchamp, Piet Mondrian; mittlere Reihe: Max Ernst, Amédée Ozenfant, André Breton, Fernand Léger, Berenice Abbott; vordere Reihe: Stanley William Hayter, Leonora Carrington, Frederick Kiesler, Kurt Seligmann. Im Stadthaus von Peggy Guggenheim), New York, 1942. (Foto: Hermann Landshoff/Stadtmuseum München)

Dessen Porträt-Aufnahmen seien ein "Who is Who" jener Zeit. 3600 Originale und Unikate. 20 Jahre habe es gedauert, bis alles - zum Teil sogar vor US-Gerichten - geklärt gewesen sei. "Ein wunderbares Beispiel für Fotografie- und Emigrationsgeschichte", schwärmt Pohlmann.

Vieles auf der Wunschliste des Sammlungsleiters konnte nicht mit eigenen Mitteln erworben werden. Das Ankaufsbudget für die Sammlung Fotografie beträgt gerade 10 000 Euro pro Jahr. "Vertrauen aufbauen, dass die Fotos nicht im Depot verschwinden, sondern im richtigen Kontext gezeigt und ausgeliehen werden, ist enorm wichtig", weiß Pohlmann. Nur so konnte er gute Konditionen aushandeln oder schaffte es, dass eine Sammlung, wie jüngst die von Ann Mandelbaum, als Schenkung ans Stadtmuseum kam. Aber auch Kulturstiftungen haben zahlreiche Ankäufe ermöglicht, denn zum Teil waren Millionen-Beträge aufzubringen.

"Wir müssen den Ariadnefaden finden, um zu vermitteln, was passiert und wie man kritisch damit umgeht."

In jüngerer Zeit geht es häufig um die Frage, wie man mit digitalen Archiven umgehen soll. "Das Format einer Fotografie ist nach wie vor wichtig, aber die Frage des Formats ist im digitalen Zeitalter fluider geworden." Und die Bilderflut sei zwar kein neues Phänomen, habe aber durch die Digitalisierung eine neue Qualität erreicht. Ausstellungen finden zudem nicht mehr nur in Museen und Galerien statt, sondern auch im digitalen Raum. Museen müssen darauf reagieren. "Das Fotomuseum Winterthur hat als erstes Museum einen digitalen Kurator, das Museum Folkwang denkt wohl auch darüber nach", sagt Pohlmann. Man suche nach Möglichkeiten, nicht nur die Werke zu zeigen, sondern auch das, was drumherum in der digitalen Welt passiere.

In den vergangenen Jahren hat sich das konservatorische Bewusstsein stark weiterentwickelt. So verfügt das Stadtmuseum inzwischen über zwei Fotorestauratorinnen. Und im noch relativ neuen Depot in Freimann sind die Möglichkeiten der Aufbewahrung fotografischer Archive und Nachlässe, die von der Glasplatte bis zur digitalen Aufnahme reichen, sehr gut. Pohlmann weiß: "Das ist in vielen Museen nicht so. Es müssen konservatorisch große Anstrengungen unternommen werden", fordert er.

Auch treibt ihn um, wie sich Zeitgeschmack und technische Möglichkeiten verändern. "Besteht die Zukunft aus einer atomisierten Bildrealität? Was ist ikonisch im Bilderuniversum?" Damit einher gehen Fragen nach der Konstruktion von Erinnerung - wie beim Hoepker-Foto - und Identität.

Kuratieren bedeute immer auch entscheiden, was wichtig ist und - was wichtig wird. "Man ist wie eine Membran, wie ein Filter." Wohin also werden sich die Medien entwickeln? "Der virtuelle Raum wird immer größer und wichtiger, zugleich steigt aber auch das Bedürfnis nach Materialität. Wir müssen uns fragen: Was können Museen diesbezüglich leisten?" Auch im Hinblick auf neue technische Möglichkeiten wie Apps, die Bilder verändern. "Wir müssen den Ariadnefaden finden, um zu vermitteln, was passiert und wie man kritisch damit umgeht."

"Es gibt riesige Defizite in der universitären Lehre."

Sorge macht ihm auch der akademische Bereich. Es gebe zu wenige Lehrstühle, Deutschland hinke den USA und auch Frankreich weit hinterher. "Es gibt riesige Defizite in der universitären Lehre, da muss etwas passieren." Fotografie hat als Kunstform längst ihren Platz in der Kunstgeschichte gefunden. Ausdruck dafür ist auch das Deutsche Fotoinstitut. Doch dass die Standortdebatte darum nach jahrelangem Streit kürzlich zugunsten von Düsseldorf statt Essen entschieden wurde - eine politische Entscheidung gegen den Rat der Experten - entsetzt ihn.

Weil Kulturreferent Anton Biebl ihn bat, blieb er ein paar Monate länger im Amt als geplant. "Nun aber wird es Zeit, dass die Generation der Digital Natives rankommt", sagt er, "schon im Hinblick auf all die Herausforderungen, die die Digitalisierung der Fotografie mit sich bringt." Der Verleger Lothar Schirmer hat eine große Festschrift zum Abschied von Ulrich Pohlmann angeregt, die ihn würdigt und die Ende des Monats erscheinen soll.

Der 1956 in Schleswig-Hostein geborene Pohlmann hat in den Achtzigerjahren promoviert und seine berufliche Laufbahn begonnen (mit einer Ausstellung über Wilhelm von Gloeden). Er war Foto-Kurator bei der F. C. Gundlach-Stiftung sowie im Stadtarchiv Köln (das 2009 einstürzte). Auch heute erinnert er sich noch gut, wie er sich 1990 im Münchner Stadtrat und vor dem damaligen OB Georg Kronawitter um die Stelle bewarb. "Da wurde die Neubesetzung eines Sammlungsleiters in einem städtischen Museum noch ziemlich hochgehängt", erzählt er schmunzelnd. Um die 70 Bewerbungen habe es gegeben, eine Handvoll Leute seien eingeladen worden, sich persönlich vorzustellen. "Jeder von uns hatte acht Minuten Zeit. Christian Ude, damals noch Zweiter Bürgermeister, drückte die Stoppuhr."

Nun aufzuhören, fühle sich "etwas unwirklich" an. "Ich bin nach 32 Jahren doch sehr mit dem Museum verwachsen." Doch die anfängliche Melancholie sei Heiterkeit und Gelassenheit gewichen: "Ich freue mich auf das, was kommt." Ulrich Pohlmann wird in diesem Jahr ziemlich häufig in Paris anzutreffen sein, wo er eine große Retrospektive von Henri Cartier-Bresson in der gleichnamigen Fondation für 2024 vorbereitet. Außerdem sind einige Buchprojekte geplant.

Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin - angeblich soll die Personalie schon demnächst entschieden werden - wird aber erst einmal wegen der anstehenden Generalsanierung des Stadtmuseums mit dem Umzug aufs Arri-Gelände beschäftigt sein. Danach soll das Zeughaus als eine Art Plattform dienen, außerdem sind zahlreiche Kooperationen mit anderen Münchner sowie überregionalen Institutionen geplant, um sichtbar zu bleiben. Teile der fotografischen Sammlung auf Reisen zu schicken, kann Pohlmann sich gut vorstellen. Doch das ist etwas, das nun andere entscheiden werden.

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