Porträt:Die Grenzstürmerin

Porträt: In "Anima" lässt Protagonistin und Regisseurin Decker los und vertraut der Welt ein Geheimnis an.

In "Anima" lässt Protagonistin und Regisseurin Decker los und vertraut der Welt ein Geheimnis an.

(Foto: Flare Film Siri Klug)

Uli Decker erzählt in der Dokumentation "Anima - Die Kleider meines Vaters" von einem Familiengeheimnis und auch von ihrer eigenen Geschichte. Die Regisseurin will Grenzen von Geschlecht und Sexualität überwinden. Ein hartes Unterfangen im Murnau der Achtzigerjahre.

Von Greta Hüllmann

Uli Decker steht nur wenige Sekunden allein vor dem Publikum. Entspannte Haltung, auffordernder Blick, kurze rot-braune Locken. Es ist August 2019, und die Filmemacherin und Regisseurin liest ihren Text "Queere Revolution" auf einem Sommercamp vor. Das Video war im Internet zu finden. Während Decker spricht, stellen sich immer mehr Menschen neben sie, bis der ganze Raum gefüllt ist von Personen, die im wahrsten Sinne des Wortes zu ihrer Queerness stehen. Decker sagt: "Wir sind nicht das seltsame Andere, sondern das in uns allen, was sich nicht von Verboten auslöschen lässt." Das Besondere an dieser Szene ist nicht, dass Decker offen queere Themen verhandelt, sondern, dass sie nicht mehr alleine kämpft. Sie hat eine Gemeinschaft gefunden, nach der sie die ersten 18 Jahre ihres Lebens vergeblich suchte.

Als sie die Rede hielt, arbeitete Decker bereits seit drei Jahren an ihrem Langfilmdebüt "Anima - Die Kleider meines Vaters". Die Produktion sollte noch weitere drei Jahre in Anspruch nehmen, bevor der Film beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2022 seine Premiere feiern und zwei Auszeichnungen für den besten Dokumentarfilm von Jury und Publikum erhalten würde. In "Anima" erzählt Decker vom Geheimnis ihres Vaters und von sich. Die immerwährende Rebellion gegen Grenzen und Ungerechtigkeiten, die Abenteuerlust, aber auch die Verlorenheit und Sehnsucht nach Geborgenheit bestimmen ihre Arbeit. Decker wuchs in den Achtzigerjahren in Murnau im bayerischen Alpenvorland auf. Der Ort ist hübsch, die Kulisse imposant und das Weltbild konservativ. Deckers Familie passt da auf den ersten Blick gut hinein. Vater, Mutter, zwei Töchter - und der Katholizismus - lebten zusammen in einer unscheinbaren Doppelhaushälfte. Decker empfand dieses Aufwachsen allerdings als erdrückend. Der Vater litt an Depressionen. Einmal schluckte sie viele Tabletten, wachte aber nur mit starken Kopfschmerzen auf. "Es ist eine Fassade, diese Normalität", sagt sie im Gespräch.

Porträt: Uli Decker (Zweite von rechts) wollte keine Kleider und lange Haare tragen.

Uli Decker (Zweite von rechts) wollte keine Kleider und lange Haare tragen.

(Foto: Flare Film/Privatarchiv Familie Decker)

Die Fassade pflegte ihr Vater unermüdlich, um sich zu schützen, und die junge Uli Decker versuchte ebenso unermüdlich sie einzureißen, um ihrem Vater näherzukommen. Sie hatte kein Interesse daran, dem Frauenbild jener Jahre zu entsprechen. Decker wollte keine Kleider tragen, fand neben Jungs auch die Lehrerin süß und rebellierte gegen die gesellschaftliche und familiäre Enge. "Ich war schon mit drei Jahren wütend", erinnert sich Decker lachend. "Ich habe an jeder Ecke Ungerechtigkeiten gesehen, war damit aber die Einzige." Alles, was Decker spannend fand, Abenteuer, zum Beispiel, oder Papst werden, war Männern mit Bärten vorbehalten, so beschreibt sie es in "Anima". Warum also ein Mädchen sein? Heute denkt Decker, dass auch sexistische Normen Grund für ihre Gefühle waren. "Es gab so eine Leere an Bildern zu positiver Weiblichkeit. Ich hatte keine Vorbilder, nur Fantasie." In dieser und später auch in Filmen konnte sie tun und sein, was immer sie wollte.

Noch heute wirkt es so, als könne Decker, sobald jemand versucht ihr eine Grenze zu zeigen, nicht anders, als darüber hinweg zu sprinten. Sich in die Kategorien Gender, Sexualität oder sogar Alter einzuordnen, widerstrebt ihr. "Labels wie homosexuell, heterosexuell, bisexuell fühlen sich verkürzt an, und die Genitalfixierung finde ich seltsam. Eine Verbindung mit einem Menschen ist doch viel mehr", sagt sie. "Aber ich weiß auch, dass sie wichtig sind, um Sichtbarkeit zu schaffen. Für manches gibt es erst jetzt Worte." Queens "I want to break free" könnte das Lied zu Deckers Leben sein. Wenig überraschend zog sie nach dem Abitur nicht einfach ins 70 Kilometer entfernte München, sondern wechselte direkt den Kontinent. Ein Jahr lang lebte sie bei Einheimischen im brasilianischen Regenwald, hängte ihre Hängematte neben ihre, fischte mit den Männern und fühlte sich zum ersten Mal geborgen. "Es hat mein Leben komplett verändert", sagt Uli Decker rückblickend. Die Fotos aus der Zeit zeigen eine junge Frau, deren Augen nicht nur stechend blau, sondern vor allem glücklich aussehen. "Ich fahre nicht so oft zu Besuch, weil ich immer Angst habe, dort zu bleiben", sagt sie, und man glaubt ihr sofort.

Porträt: Alles, was die Regisseurin früher spannend fand - zum Beispiel Papst werden -, war Männern mit Bärten vorbehalten.

Alles, was die Regisseurin früher spannend fand - zum Beispiel Papst werden -, war Männern mit Bärten vorbehalten.

(Foto: Flare Film Falk Schuster)

Die Zeit am Amazonas lehrte Decker nicht nur, was Freiheit und Gemeinschaft bedeuten, sondern inspirierte auch die ersten filmischen Projekte: Dokumentationen zur Abholzung des Regenwaldes und zum Alltag brasilianischer Frauen. Die politische Haltung und der sensible Blick auf Protagonistinnen charakterisieren jede Arbeit Deckers, am deutlichsten jedoch in "Anima". "Die Idee für den Film hatte ich schon vor 17 Jahren, aber da war es mir viel zu persönlich", schildert sie. Damals verstarb ihr Vater überraschend, ein Streich von Schülern, der im Tod des Lehrers endete. Am Sterbebett erfuhr Decker sein Geheimnis, sich als Frau zu kleiden und zu schminken. In der Doku zeigt sie, was passiert, wenn Grenzen um Geschlecht, Kleidung und Sexualität starr- und strammstehen. "Menschen sollten einfach Menschen sein können."

Dass die Arbeit an "Anima" ein intensiver Prozess war, bestätigen nicht nur Decker, sondern auch ihre Kolleginnen. "Ich musste streng mit Uli sein und sie aus der sicheren Zone holen", berichtet Amparo Mejías, Editorin von "Anima". "Uli hatte Angst, die Familie zu blamieren und sich zu öffnen. Aber sie hat es getan, sie ist sehr mutig." Auch Produzentin Katharina Bergfeld spricht von der "Wucht" und "Fallhöhe" des Filmes für seine Regisseurin. Auf die Frage, wie sie die Arbeit mit Decker beschreiben würde, sagt sie: "Uli ist eine gute Mischung aus klarer Vision und Offenheit." Niemals würde sie die Sehnsüchte ihres Vaters kompromittieren, aber darüber zu schweigen, war auch keine Option. "Die Zuschauer:innen sollen sich nicht distanzieren, sondern das Universelle unserer Geschichte erkennen", sagt Decker. Ob sie eine politische Filmemacherin sei? Decker denkt nach und verneint. Eine "utopische Filmemacherin" gefalle ihr besser. "Ich kann das Publikum 90 Minuten lang in eine andere Realität eintauchen lassen. Die Leute sollen rausgehen und Lust auf das Leben haben." Es ist passend, dass Decker sich nicht auf das vorgeschlagene Label einlassen will, sondern sich lieber ein eigenes überlegt. Berlin oder Murnau? "Beides", sagt sie. Murnau sei Seelenheimat, Berlin Freiheit und Gemeinschaft. Es gibt nicht nur entweder-oder, und das weiß Uli Decker schon lange.

"Anima - Die Kleider meines Vaters", Kinostart 20. Okt.

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