Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Zwischen Welten:Manchmal setzt der Herzschlag aus

Unsere Kolumnistin hat seit ihrer Flucht mit ihrer vierjjährigen Tochter aus Kiew viel Gutes erlebt. Ob sie den Krieg und die Gefahr für ihre Freunde deshalb zumindest gelegentlich ausblenden kann?

Von Emiliia Dieniezhna, München

Am 24. Juli waren es fünf Monate, seit Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Vor fünf Monaten bin ich mit meiner kleinen Tochter aus Kiew geflohen. Das war eine schwierige, aber sehr schnelle Entscheidung, denn als ich um fünf Uhr morgens die ersten Raketen hörte, saßen wir 15 Minuten später schon im Auto. Ich hatte nur einen Koffer dabei mit unseren Ausweisen, meinem Laptop und Evas Spielsachen.

Der Weg nach München dauerte mehr als sechs Tage: mit dem Auto, mit dem Zug, mit dem Bus und langen Menschenschlangen an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen. Wir wurden begleitet vom Lärm der einschlagenden Raketen, und meine vierjährige Tochter fragte ständig, was da passiert. "Was bedeuten diese Lichtblitze? Warum ist es so laut?" Und natürlich: "Warum fahren wir ohne Papa?"

Ich hatte keine Ahnung, was auf uns in Deutschland zukommt, aber ich hatte wenigstens ein Ziel: Pullach. Dort wohnt die Familie einer Freundin, die sofort bereit war, uns zu unterstützen. Viele andere Ukrainer hatten dieses Privileg nicht.

Jetzt kann ich kaum glauben, dass seit unserer Ankunft schon fünf Monate vergangen sind. Es fühlt sich immer noch an, als sei es gestern gewesen. Und trotzdem ist so viel in meinem Leben passiert. Ich arbeite als Deutschlehrerin für eine Willkommensklasse am Pullacher Gymnasium, habe die Bürokratie verstanden - und Fahrrad fahren gelernt. Für meine Tochter habe ich einen Kita-Platz gefunden, sie hat Freundschaften geschlossen und schon viel Deutsch gelernt. Man könnte sagen, dass unser Leben wieder in ruhigen Bahnen verläuft. Aber das wäre zu weit von der Realität entfernt.

Jeden Tag gehe ich abends mit dem Gedanken an mein Land ins Bett und stehe morgens damit auf. Ich frage mich, was ich für die Ukraine und die Menschen dort machen kann. Ich helfe Geflüchteten in Pullach und München ehrenamtlich als Übersetzerin und als jemand, der Recht studiert hat und bürokratische Prozeduren gut versteht. Ich versuche, humanitäre Hilfe für Regionen zu organisieren, die besonders vom Krieg getroffen sind. Und ich spende für die ukrainische Armee.

Um informiert zu bleiben, lese ich die ukrainische Presse online, und mein Herzschlag setzt jedes Mal aus, wenn ich Fotos von Kindern sehe, die bei Angriffen gestorben sind (was sehr oft passiert). Ich denke dann, dass das auch mein Kind sein könnte. Ich leide, wenn ich von einem Soldaten oder einer Soldatin lese, die ihr Leben verloren hat, um unser Land zu schützen. Sie haben den höchsten Preis für die Freiheit der Ukraine bezahlt.

Ich pflege den Kontakt zu meiner Familie, Freunden, Bekannten und Freiwilligen zu Hause. Außerdem arbeite ich weiter für meine Nicht-Regierungs-Organisation, auch wenn es nun ehrenamtlich ist. Dafür beobachte jeden Tag die Medien hier, um zu verstehen, welche Themen in Deutschland wichtig sind.

Obwohl mein Körper in Pullach ist, bleibt mein Herz in der Ukraine. Ich habe das Gefühl, dass ich zwischen zwei Welten eingeklemmt bin. Die eine Welt ist ruhig und sicher, die andere zerrissen vom Krieg. Ich vermute, dass Tausende Geflüchtete ähnlich fühlen und täglich lernen, in dieser neuen Realität zu leben.

Emiliia Dieniezhna, 34, flüchtete mit ihrer vierjährigen Tochter Eva aus Kiew nach Pullach bei München. Von dort aus arbeitet sie ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Die NAKO wird laut ihrer Website von verschiedenen europäischen Staaten sowie der EU-Anti-Korruptions-Initiative (EUACI) unterstützt. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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